Das Vorleser-Denkmal in Achim
Die Reportage zum Anhören: Der Vorleser aus Achim, [2:58]
2,50 Meter hoch ist die Skulptur "Der Vorleser" von Helma Poschpiech-Klessinger und steht vor dem Achimer Amtsgericht am Anfang der Fußgängerzone. Das Denkmal besteht aus fünf aufeinander gestapelten Terrakottablöcken. Die unteren drei sind ein bisschen schraffiert, auf die beiden oberen sind Menschen gemeißelt. Elke Gerber ist seit 27 Jahren Gästeführerin in Achim - und muss ein wenig schmunzeln über die Skulptur.
Ganz oben sitzt in der Mitte ein Mann mit einem Buch und rechts und links sitzen noch je drei Arbeiter. Drei machen oder drehen ihre Zigarren in der Luft und drei drehen ihre Zigarre auf dem Oberschenkel. Was hätte das für Zigarren gegeben? Elke Gerber, Gästeführerin in AchimDie ersten Zigarrenfabriken entstanden in Achim Mitte des 19. Jahrhunderts, als Bremer Fabrikanten nach Achim kamen, um die damalige Bremer Zollgrenze zu umgehen. Der Tabak kam aus Kamerun, damals eine deutsche Kolonie, aus Brasilien oder Kuba über den Bremer Freihafen und die neue Eisenbahn. Und aus Kuba kam auch der Beruf des Vorlesers:
Die Zigarrenmacher waren politisch sehr interessiert. Die wollten also die Zeitung hören, die wollten die neuesten Nachrichten, politische Nachrichten wollten sie wissen. Aber manchmal war ihnen das zu viel, dann wollten sie auch mal was Schönes haben. Wurde immer drüber abgestimmt. Und dieser Posten des Vorlesers, der war sehr begehrt. Elke Gerber Der Vorleser stillt den BildungshungerDer Vorleser wurde von den Arbeiterinnen und Arbeitern angestellt - und von ihnen genauso bezahlt wie sie auch. Während der eintönigen Arbeit sollte er sie über das Tagesgeschehen informieren - und unterhalten.
Man darf ja nicht vergessen, dass es auch einen Bildungshunger gab. Also, es hat ja auch eine Veränderung gegeben. Von der Landwirtschaft und der Leibeigenschaft, sag ich mal, oder der totalen Abhängigkeit, zum einmal - in Anführungsstrichen - freien Arbeiter. Freie Arbeiter hieß aber auch, dass er den Marktbedingungen im Prinzip ausgeliefert war. Und da hatte man natürlich auch ein Interesse an Bildung. Stephan Leenen, HistorikerElke Gerber und Stephan Leenen kennen die Geschichte des Denkmals.
Stephan Leenen, promovierte Historiker, arbeitet in der Stadtverwaltung Achim. Er erinnert daran, welche politische Rolle die Zigarrenarbeiter hatten. Sie seien schließlich die ersten gewesen, die "den sozialdemokratischen Gedanken und die Gewerkschaften nach vorne gebracht haben. Das heißt, das waren die ersten, die sich quasi gewerkschaftlich organisiert haben und auch eine Hilfskasse aufgemacht haben, dass sie sich gegenseitig unterstützen konnten."
Die Erfindung des Radios machte einige Jahre später auch in Achim die Vorleser überflüssig. Anders auf Kuba: Dort ist "lector de tabaquería" auch heutzutage noch ein angesehener Beruf. Er wurde 2012 zum kulturellen Erbe des Landes erklärt.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 31. August 2020, 10:40 Uhr.