Stella Schalamon: Sind Sie ein aufrichtiger Autor, Monsieur Carrère?
Emmanuel Carrère: Ich weiß nicht, ich bin jedenfalls nicht das Gegenteil. Das liegt vielleicht an meiner autobiografischen Arbeit, die in der Tat sowohl so aufrichtig als auch so wahrheitsgemäß ist, wie ich es sein kann. Deshalb gefällt mir der Begriff der Autofiktion nicht sonderlich, der fiktive Anteil an dem, was ich schreibe, liegt quasi bei Null.
Ist "Ein russischer Roman" also eher ein Tagebuch?
Nein, wenngleich der Roman Dinge beinhaltet, die von der Art eines Tagebuchs sind. Er ist eine autobiografische Erzählung, die versucht, Dinge, die man oft trennt, gleichzeitig zu behandeln. Man könnte sich leicht zwei Bücher statt einem vorstellen. Als gäbe es ein Buch über die ganze Geschichte in Russland, die russische Sprache, die Suche nach einem verschwundenen Familienmitglied. Und auf der anderen Seite ist es eine zeitgenössische Liebesgeschichte, die ich mit meiner damaligen Gefährtin erlebte und die sehr schlecht endete. Die Herausforderung bestand darin, sich zu sagen, dass das alles dasselbe Buch ist, aus dem einfachen Grund, weil dieselbe Person diese Dinge im selben Moment erlebt hat. In unserer Erfahrung, in der Realität, sind die Dinge nicht voneinander getrennt.
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