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"Es knallte und der Kreißsaal war komplett verwüstet"

Rim El Hasbani, 24, auf dem Balkon ihrer Wohnung.

Viele Gebäude in Beirut sind noch immer zerstört, an Häuserwänden und Mauern erinnern Fotos an Verstorbene und in Erzählungen wird das Erlebte in eine Zeit vor und eine Zeit nach der Explosion eingeteilt. Der 4. August 2020 ist in der Stadt allgegenwärtig. Gegen 18.08 Uhr Ortszeit explodierten damals im Hafen mehrere Tonnen des chemischen Salzes Ammoniumnitrat. Durch die Detonation starben rund 200 Menschen, mehr als 6.000 wurden verletzt, etwa 300.000 verloren ihr Zuhause. Hier erzählen vier junge Libanesinnen und Libanesen, wie sie den Tag erlebt haben und wie sich die Beziehung zu ihrer Stadt verändert hat.


"In der Therapie habe ich gelernt, mit meiner posttraumatischen Belastungsstörung umzugehen"

Rim El Hasbani, 24, arbeitet als Karriereberaterin und absolviert zeitgleich per Fernstudium einen Master in Special Education an der Arizona State University in den USA.


Hätte es die Coronavirus-Pandemie nicht gegeben, wäre ich jetzt tot. Das wurde mir bewusst, als ich einige Tage nach der Explosion in mein Büro im Beiruter Stadtteil Gemmayzeh ging. Das Glas der Fensterfront war in kleinste Teile zerbrochen, die Decke eingestürzt und mein Tisch in zwei Teile zersplittert wie ein Baumstamm nach einem heftigen Sturm. Bei der Explosion saß ich nicht an diesem Tisch, sondern bei meinen Eltern im Wohnzimmer etwa 20 Minuten von entfernt. Wie so viele Menschen auf der Welt habe ich wegen der Pandemie im Homeoffice gearbeitet, das hat mich gerettet.

Ich erinnere mich an die Detonation: Plötzlich hat alles gewackelt, dann hörte ich einen lauten Knall. Meine Familie und ich haben versucht, über Nachrichten und soziale Medien herauszufinden, was los war.


Kurz nach der Explosion habe ich eigentlich gar nichts gefühlt. Ich war wie betäubt, als wäre die Welt da draußen nicht meine Realität. Ich habe meinen Unidozenten geschrieben, dass ich mich eventuell zur Vorlesung verspäten würde. Ich studiere abends nach der Arbeit über ein Fernstudium an der Arizona State Universität in den USA. Heute muss ich darüber schmunzeln: Als ob niemand verstanden hätte, wenn ich ohne Abmeldung gefehlt hätte.

Es hat mehrere Tage gedauert, bis ich gemerkt habe, dass die Explosion Spuren bei mir hinterlassen hat. Irgendwann hörte das Gefühl der Taubheit auf und kleinste Dinge wie hohe Stimmen oder Vibrationen lösten unkontrollierte Emotionen in mir aus. Plötzlich war ich sehr traurig oder hatte Angst. Ich konnte schlecht einschlafen und hatte Albträume. Als ich mit meinem Hund spazieren ging und ohne scheinbaren Grund anfing zu weinen und nicht mehr aufhören konnte, wusste ich: Irgendwas stimmt nicht. Ich habe bei meiner Uni gefragt, ob es dort ein psychologisches Beratungsangebot gibt. So bin ich zu meiner Therapeutin gekommen.


Die Therapie hilft mir sehr. Ich habe gelernt, dass ich eine posttraumatische Belastungsstörung habe und wie ich mit ihr umgehe. Wenn ich Flashbacks bekomme, hilft es mir, mich auf den Boden zu legen und nach und nach jedes einzelne Körperteil bewusst wahrzunehmen. Außerdem habe ich in den letzten Monaten gelernt, mich um mich selbst zu kümmern. Vor zwei Monaten bin ich in meine erste eigene Wohnung gezogen. Im ist es üblich, lange bei seinen Eltern zu leben. Ich mag meine Eltern, aber ich habe gemerkt, dass ich mich so freier entfalten kann. Meine Wohnung bedeutet mir deshalb viel. Sie steht für die Entwicklung, die ich im letzten Jahr gemacht habe, und für die Arbeit an mir selbst. Ich habe lange gedacht, dass mir eine Therapie nicht zusteht, weil sie die Explosion nicht ungeschehen machen kann. Ich weiß, dass diese Gedanken auch andere haben, aber vielen fehlt das Geld, um eine Therapie zu beginnen. Es macht mich traurig, dass so viele Menschen nicht die Hilfe bekommen, die sie bräuchten.


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