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Corona-Maßnahmen: Irreführende Berichte über Suizidzahlen in Berlin

Die Behauptung, die Suizidrate sei angestiegen, beruht auf den Einsatzzahlen der Berliner Feuerwehr. (Symbolbild: WagnerAnne/Pixabay)

Auf mehreren Webseiten wird die Behauptung aufgestellt, die Suizidrate in Berlin sei seit Inkrafttreten der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronavirus stark erhöht. „Suizide in Berlin steigen im ersten Quartal drastisch“ titelt etwa Tichys Einblick und bei Einreich heißt es „Dank Merkels Lockdown: Selbstmordrate steigt um 300 Prozent“. Das ist irreführend.

 

Die Steigerung von 300 Prozent bezieht sich nur auf einen bestimmten Einsatzcode der Berliner Rettungsdienste: Den für Sprünge mit unterstellter suizidaler Absicht aus mehr als zehn Metern Höhe. Nach Recherchen von CORRECTIV haben die Notrufe wegen „suizidaler Vorfälle“ in Berlin insgesamt in den ersten vier Monaten 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum abgenommen. Gingen von Januar bis Ende April 2019 noch 3.348 Notrufe ein, die von der Leitstelle einen Einsatzcode mit Bezug zu selbstverletzendem Verhalten bekamen, waren es von Januar bis Ende April 2020 nur 3.172. Das entspricht einem Rückgang von 5,3 Prozent. Unsere Auswertung zu den Daten kann hier eingesehen werden.


Nicht die Suizidrate ist gestiegen, sondern eine bestimmte Art von Notrufen

Die Texte auf den Blogs EinreichJournalistenwatch und Anonymous News sind dem Wortlaut nach fast identisch. Einreich gibt als Quelle auch den Beitrag auf Anonymous News an. Anonymous News wiederum verweist auf den Artikel von Tichys Einblick. In allen Texten wird die These aufgestellt, Suizide hätten seit den Corona-Maßnahmen stark zugenommen: „Mehr Schaden als Nutzen: 300 Prozent mehr Selbstmorde in Berlin wegen Lockdown“, heißt es auf Journalistenwatch und Anonymous News titelte „Dank Merkels völlig verfehlter Lockdown-Politik: Selbstmordrate in Berlin steigt um 300 Prozent“.


Tichys Einblick bezieht sich als Quelle auf eine Anfrage des Berliner FDP-Abgeordneten Marcel Luthe an die Landesregierung nach entsprechenden Einsätzen. Tichys Einblick schreibt: „Bis April gab es in Berlin nach den Feuerwehr-Daten sieben Todessprünge aus mehr als 10 Metern Höhe – so viel wie im gesamten Jahr 2019. Die Zahl der Sprünge ohne Höhenangabe lag bis April bei sechs – ebenfalls so viele wie im Jahr 2019.“ 


Weitere Zahlen in dem Artikel beziehen sich auf die „absichtliche Einnahme von Medikamenten-Überdosen mit ausgelösten Atembeschwerden“ (67 Fälle, Steigerung 31 Prozent), die „absichtliche Überdosis von trizyklischen Antidepressiva“ (17 Fälle, Steigerung 89 Prozent bis April) und die „Kombination von akuter Suizidgefährdung in Verbindung mit gewalttätigem Verhalten“ (69 Fälle, Steigerung 15 Prozent).


Die Zahlen stimmen. Eine Steigerung von 300 Prozent, die in zahlreichen Artikeln in der Überschrift genannt wird, bezieht sich allerdings nur auf die „Todessprünge“ aus mehr als zehn Metern Höhe. Die Zahlen als Steigerung der Suizidrate insgesamt darzustellen, ist irreführend.


In einer ersten Anfrage vom 25. Mai 2019 hatte Luthe sich erläutern lassen, welche Szenarien hinter den Einsatzcodes stecken. In einer zweiten Anfrage vom 30. Mai 2020 hatte er dann erfragt, wie oft Sanitäter und Feuerwehr für Einsätze zu 83 der Codes zwischen Januar 2019 und April 2020 ausgerückt sind. Das Berliner Innenministerium stellte CORRECTIV beide Antwortschreiben auf die Fragen Luthes zur Verfügung (hier und hier einzusehen).


Alle 83 abgefragten Codes stehen mit selbstschädigendem Verhalten oder einem vom Anrufer unterstellten suizidalem Hintergrund in Zusammenhang, etwa absichtliche Überdosierungen verschiedener Substanzen, vorsätzliche Sprünge aus großer Höhe oder selbst zugefügte Stichverletzungen. Luthe wählte diesen Weg mutmaßlich, weil zur Zahl der Suizide keine aktuelle Statistik vorliegt. Zur Anzahl von Suiziden im Jahr 2020 gibt es noch keine Auswertungen. Die aktuellsten Zahlen sind die für das Jahr 2018.


Aus geringen Fallzahlen lassen sich keine statistischen Tendenzen ableiten

Die von Luthe angefragten Einsatzcodes der Rettungskräfte in Berlin zeigen: Nicht die Suizidrate in Berlin ist seit Beginn des „Lockdowns“ Mitte März um 300 Prozent gestiegen, sondern die Häufigkeit eines einzelnen Einsatzcodes: 17D01J. Er steht für Personen, die mit unterstellter Suizidabsicht aus mehr als zehn Metern Höhe springen. Dieser Einsatzcode wurde im Februar 2020 dreimal vergeben, im März gar nicht und im April viermal. Es handelt sich also um sieben Einsätze im ersten Jahresdrittel 2020. Wie Tichys Einblick richtig feststellt, sind das so viele wie im ganzen Jahr 2019.


Bei so niedrigen Zahlen schwankt der Monatsvergleich jedoch sehr stark. Statistische Tendenzen lassen sich daraus nicht ablesen. 


Das zeigt sich an den früheren Daten: Im Jahr 2018 wurden laut der Daten, die der Berliner FDP-Politiker Marcel Luthe bei der Landesregierung angefragt hatte, zwölf Einsätze wegen des Codes 17D01J gefahren. Die Zahl hat sich von 2018 (12) auf 2019 (7) also fast halbiert. Vergleicht man März 2019 (1) und März 2020 (0) miteinander, ist die Zahl der Einsätze um 100 Prozent gesunken – von eins auf null. 


Einsatzcodes der Rettungsdienste bilden tatsächliche Suizide nicht zuverlässig ab

Die Berliner Feuerwehr wertet Suizide nicht aus, stellt keine Motive für Suizide fest und legt auch nicht fest, ob es sich um einen (versuchten) Suizid gehandelt hat oder nicht, erklärt uns eine Sprecherin der Berliner Feuerwehr. 


Die E-Mail einer Pressesprecherin der Berliner Feuerwehr. (Screenshot und Markierung: CORRECTIV)

Die Diagnose „Suizid“ stelle ein Leichenbeschauer, nicht die Feuerwehr, bestätigte uns zudem ein Sprecher der Feuerwehr telefonisch. Daher könne man aus den Einsatzcodes, die schon beim Notruf festgelegt würden, nicht die tatsächliche Zahl der Suizide ableiten. 

Die Zahlen sind also nicht belastbar, weil die Einsatzcodes schon bei Eingang des Notrufs erstellt werden – noch ehe Rettungskräfte die tatsächliche Lage vor Ort beurteilen können. Bei den Fallzahlen aus dieser Statistik handele es sich „nicht um bestätigte Einsatzszenarien“, betont auch ein Pressesprecher der Berliner Landesregierung in einer E-Mail an CORRECTIV. Es handelte sich um die Einschätzung der Person, die den Notruf absetzt.

Auszug aus der E-Mail eines Pressereferenten des Berliner Senats für Inneres. (Screenshot und Markierungen: CORRECTIV)

Die beim Notruf erstellten Einsatzcodes würden später auch nicht mehr verändert, wie uns der Sprecher der Berliner Feuerwehr telefonisch bestätigte. Auch dann nicht, wenn sich vor Ort ein anderes Einsatzbild abzeichne. Wenn zum Beispiel eine Person auf einem Dach gemeldet werde, sich dann aber herausstelle, dass sie aus einem anderen Grund dort oben war. 


Sieht man sich die Zahlen zu allen 83 Einsatzcodes, die Marcel Luthe abgefragt hatte, genauer an, wird deutlich, dass die Behauptung, es gebe „300 Prozent mehr Suizide in Berlin“, nicht haltbar ist. Sie zeigen, dass die Einsätze wegen suizidaler Absichten von Januar bis April 2020 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum nicht „drastisch erhöht“, sondern von 3.348 auf 3.172 gesunken sind. 


Fazit: Die Zahlen, die in den Artikeln als Belege herangezogen werden, sind Statistiken zu Einsatzcodes der Rettungskräfte und belegen keine tatsächlichen Suizide. Da keine Todesfallstatistik zu den tatsächlichen Suizidzahlen in Berlin vorliegt, ist die Behauptung unbelegt.


Wenn Sie Depressionen oder suizidale Gedanken haben, bekommen Sie Hilfe zum Beispiel bei der Telefonseelsorge (unter 0800/111 0 111 oder 0800/111 0 222) oder anderen Beratungsstellen.

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