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Wenn es sonst niemand tut, mach es einfach

Wie Nalan Sipar Journalismus für die türkischsprachige Community in Deutschland macht.


Frühjahr 2020, das Coronavirus hat Deutschland erreicht und alle haben Fragen. Pandemie, Ausgangsbeschränkungen, Abstandsregel - durch die Medien schwirren komplizierte Vokabeln. Aber die Informationen sind nicht fair verteilt: Für Menschen, die kaum oder überhaupt kein Deutsch sprechen, ist es schwierig herauszufinden, was in dem Land passiert, in dem sie leben, welche Regeln gerade gelten. Gerüchte und Fake News machen die Runde.


Also setzt sich Nalan Sipar in Berlin vor ihren Rechner und beginnt zu sprechen - auf Türkisch. Mehr als 80 Videos nimmt die junge Journalistin in den ersten 100 Tagen der Pandemie auf. Nach Feierabend, in der Freizeit, ohne damit Geld zu verdienen.

Aber es ist ein voller Erfolg: Zehntausende Menschen sehen, wie Sipar fast täglich Fragen zum Virus beantwortet, über die Hilfsprogramme der Bundesregierung spricht und Expert:innen interviewt.


Nun, knapp neun Monate nach Beginn der Pandemie, folgen ihr rund 16 000 Menschen auf Youtube. Nalan Sipars Fazit: „Der Informationsbedarf über Deutschland ist riesig."


Rund drei Millionen Menschen in Deutschland haben türkische Wurzeln. Viele, insbesondere jüngere, sprechen perfekt Deutsch. Innerhalb der deutsch-türkischen Community gibt es aber noch immer Gruppen, die kein oder nur schlecht Deutsch sprechen. Sie kommentieren unter Sipars Videos oder schreiben der Journalistin bei Instagram: Frühere Gastarbeiter:innen, die immer nur gearbeitet haben und nie einen Sprachkurs besuchen konnten, politisch Verfolgte, Student:innen, Menschen, die erst vor kurzem nach Deutschland gekommen sind.


Für sie gibt es kaum Angebote von traditionellen deutschsprachigen Medien. Dabei sei die Information aller Menschen eine staatliche Aufgabe, sagt Sipar und ergänzt mit Blick auf die öffentlich-rechtlichen Programme: „Schließlich zahlen auch Migrant:innen den Rundfunkbeitrag."


Deutsche Medien berichten im europaweiten Vergleich zwar relativ häufig über Migration, wie eine Studie des European Journalism Oberservatory jüngst zeigte. Migrant:innen seien dabei in den meisten europäischen Medien aber nur Statist:innen der Berichterstattung, träten meist als Gruppe und nur selten als Individuen auf.


Ein ähnliches Bild zeichnet auch eine im Juli vorgestellte Untersuchung „Die Unsichtbaren" des Hamburger Journalistik-Professors Thomas Hestermann. Migrant:innen und Flüchtlinge werden demnach in deutschen Presseberichten meist negativ dargestellt, zum Beispiel als Gewalttäter oder Kriminelle. Die Auswertung von Nachrichten zeigte außerdem, dass die Betroffenen kaum zu Wort kommen: Stattdessen bestimmten Vertreter:innen von Parteien und Polizei oder Justiz den gesellschaftlichen Diskurs.


Immerhin: Das Bundesgesundheitsministerium reagierte im März auf einen Tweet von Sipar, die um Aufklärung für die türkische Bevölkerung in Deutschland gebeten hatte: „Menschen bekommen Panik", hatte die 36-Jährige getwittert. Gemeinsam produzierte man ein Video auf Türkisch, das rund 250 000 mal angesehen wurde. Auch für den „Spiegel" produziert Sipar einige Videos.


Schritte in die richtige Richtung, aber Sipar will mehr: Der Grünen-Politiker Cem Özdemir träumte vor 26 Jahren von einem deutsch-türkischen Arte - für die junge Journalistin eine gute, aber veraltete Idee. Sie setzt auf ihren deutsch-türkischen Youtube-Kanal. „Denn das ist die zeitgemäße Plattform für mein Vorhaben, um junge Menschen zu erreichen", sagt Sipar. Von ihrem Kanal könnten beide Seiten profitieren - die deutsch-türkische Community erhielte einen leichteren Zugang zu Informationen und lerne den deutschen Staat besser kennen. „Viele Menschen haben mir nach Videos über die Corona-Nothilfen geschrieben: ‚Hättest du das nicht erwähnt, hätten wir nicht gewusst, dass wir so eine Möglichkeit haben.'" Und die Mehrheitsgesellschaft bekäme echte Einblicke in die migrantischen Gemeinschaften frei von Klischees und Vorurteilen.


„Herzlich willkommen bei mir zuhause", so oder ähnlich beginnen viele Videos von Nalan Sipar. Sie ist gut gelaunt, offen, herzlich. Und wenn sie gestresst und müde ist, teilt sie das mit ihren Zuschauer:innen. Das kommt an. Nicht so ernst wie die „Tagesschau" sollten die Videos sein, sagt Sipar, sondern herzlich und emotional, auch um die „kulturelle DNA" der Zuschauer:innen anzusprechen.


Als 15-Jährige kam die Kurdin aus der Türkei nach Deutschland. Dort hatte sie als Mädchen noch eine Kindersendung moderiert, hier war sie plötzlich nicht mehr gut genug. Fremdes Land, fremde Sprache. „Du schaffst das nicht." Dieses Urteil fällte ausgerechnet eine Lehrerin Sipars. Ein Satz, den auch viele andere Menschen mit Migrationsgeschichte im Laufe ihres Lebens gehört haben. Sipar hat sich davon nicht aufhalten lassen. Abitur, Studium, Volontariat bei der „Deutschen Welle". Später arbeitete sie beim „WDR" und „Deutschlandfunk".


Die junge Journalistin hat „Du schaffst das nicht" zu einer Rubrik in ihrer Late Night Show gemacht. Noch so ein Projekt von Sipar. Zwei Folgen hat sie in Eigenregie bei „Alex Berlin" gedreht, einem kleinen TV-Sender. Sie ist Redakteurin, Produzentin, Moderatorin. Seit Januar sendet sie live aus ihrem Wohnzimmer.


In der „ersten migrantischen Late Night Show stellt Sipar unter anderem Menschen vor, denen es ähnlich ging wie ihr - Menschen, die diesen Satz in der Schule, im Studium oder in der Ausbildung gehört haben. Die Idee: Negative Erfahrungen in positive Erfahrungen umwandeln. Dem „Du schaffst das nicht" die Macht nehmen, zeigen, dass es anders geht.


Mit ihren Youtube-Videos informiert Sipar die migrantische Community, in ihrer Late Night Show gibt sie den Menschen eine Bühne. „Ich will, dass dieses neue Deutschland sichtbar wird", sagt Sipar. Das neue Deutschland, dass schon auf Tiktok oder Instagram sichtbar sei. Dort gebe es für Migrant:innen keine Hemmschwellen oder Barrieren, anders als etwa in den traditionellen Medien.


In diesem Jahr will Sipar jede Woche eine Late Night Show produzieren, neben den normalen Informationsvideos. Sie sammelt Spenden, denkt über Selbstständigkeit nach und wird von Stiftungen gefördert. Ob der Traum vom deutsch-türkischen Sender wahr wird? „Ich hoffe es", sagt Sipar, „aber ohne das ausprobiert zu haben, kann man es nicht wissen."

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