Berlin - Weihnachten steht vor der Tür und mit dem Fest womöglich auch verschärfte Corona-Regeln. Bei der Diskussion über Kontaktbeschränkungen, Nothilfen und Ausgangssperren wird eine Gruppe aber oft vergessen: Menschen, die Hartz IV empfangen. Um sie kümmert sich der Verein „Sanktionsfrei". Das Team um Gründerin Helena Kilian-Steinhaus kämpft eigentlich gegen Hartz-IV-Sanktionen und für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Derzeit geht es Kilian-Steinhaus und dem Verein aber vor allem darum, für Hartz-IV-Empfangende eine Lobby zu schaffen.
Es gibt eine allgemeine Enttäuschung, dass es keine Corona-Hilfen gab für Hartz-IV-Empfangende. Das grenzt diese Menschen noch mehr aus. Viele haben ihre Jobs verloren, Lebensmittel sind teurer geworden. Menschen, die sowieso schon von Armut betroffen sind, leiden ganz besonders unter der Pandemie.
Kurz und knapp: Ja.
Menschen mit Hartz IV haben keine große Lobby. Das liegt einerseits am Stigma von Hartz IV und den Klischees: Menschen mit Hartz IV seien faul, selber schuld, sie hätten nichts geleistet - warum sollten sie nun etwas bekommen? Andererseits liegt es am Fokus der Politik auf die Wirtschaft. Das zeigt auch die Debatte über Schulen und Kitas: Die sollen offen bleiben, damit die Wirtschaft keinen Schaden nimmt - und nicht weil der Kontakt zu Gleichaltrigen für Kinder so wichtig ist.
Erwachsene mit Hartz IV bekommen knapp 430 Euro. Da wird jeder Euro zweimal umgedreht. Wenn Toilettenpapier plötzlich fünf statt zwei Euro kostet, dann kauft man das eben nicht. Das Gleiche gilt für Obst und Gemüse: Die Menschen müssen sich schlechter ernähren. Noch schlechter, weil Hartz-IV-Empfänger sich sowieso schon nicht besonders gut ernähren können.
Nein, die Unsicherheit ist weiter groß. Anders als im Frühjahr gibt es genug Toilettenpapier, aber viele Kinder und Erwachsene sind von temporären Schulschließungen betroffen. Alle sind mehr zu Hause, oft auf engem Raum, der Stromverbrauch steigt. Nach wie vor haben die Menschen zu wenig Geld. Es gibt zwar einen einmaligen Kinderbonus für alle Familien von 300 Euro, aber machen wir uns nichts vor: Der Bonus kam spät und viel Geld ist es nicht. Gut ist, dass die Corona-Hilfen für November und Dezember anrechnungsfrei sein sollen. Aber das betrifft ja auch nur Menschen mit Arbeit, die von Hartz IV abhängig sind - also Unternehmer oder Soloselbstständige. Alle Hartz-IV-Bezieher ohne Arbeit gehen leer aus.
Sie waren so glücklich und dankbar. So dankbar, dass es schon fast absurd war. Am Ende waren es ja nur 100 Euro. Verstehen Sie, was ich meine? Viele Menschen merken ja nicht, ob 100 Euro mehr oder weniger auf dem Konto sind. Für Hartz-IV-Empfängerinnen und -Empfänger ist das eine große Sache. Manche Eltern haben uns geschrieben, dass sie jetzt endlich mal gesundes Essen kaufen können, andere haben geschrieben, dass sie neue Schuhe für die Kinder kaufen, andere wollten einfach nur mal ein Eis essen.
... und das ist, Corona hin oder her, nie eine einfache Zeit. Es gibt kein Weihnachtsgeld für Hartz-IV-Empfänger und es ist kaum möglich, Mehrkosten zu decken, die durch Weihnachten anfallen: Geschenke, Deko, Weihnachtsbaum. Das ist vor allem für Familien mit Kindern ein Problem. Viele Eltern und Alleinerziehende sparen sich das vom Mund ab, und nicht im übertragenen Sinn. Es muss ja nicht pompös sein, aber ein bisschen Weihnachtsgefühl wäre schon schön.
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf 2021?
Mit gemischten Gefühlen. Das Bundesverfassungsgericht hat zwar im vergangenen Jahr geurteilt, dass die bisherige Praxis der Hartz-IV-Sanktionen nicht zulässig ist. Inzwischen gibt es die ersten Vorschläge von Bundesländern wie Bayern und Nordrhein-Westfalen für eine neue Regelung der Sanktionen, die auch eine hundertprozentige Streichung der Beiträge wieder möglich machen würde. Das ist absurd, weil es dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts widerspricht. Aber das zeigt, dass die schwarze Pädagogik der Sanktionen weiter präsent ist. Das macht mir Sorgen. (Interview: Steffen Herrmann)
Zur Person und zur Sache
Helena Kilian-Steinhaus, 33, ist die Gründerin von Sanktionsfrei. Der Verein unterstützt Hartz-IV-Empfänger:innen, wenn das Jobcenter den Regelsatz kürzt oder streicht. Im Auftrag des Vereins untersucht ein Team der Universität Wuppertal, was passiert, wenn Arbeitslose keine Sanktionen mehr fürchten müssen. Die studierte Sozialwissenschaftlerin Kilian-Steinhaus hat als Kind selbst erlebt, was Sanktionen bedeuten. Infos zum Verein gibt es unter www.sanktionsfrei.de.
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte 2019 entschieden, dass Hartz-IV-Sanktionen zum Teil zu drastisch ausfallen und verfassungswidrig sind. Die Bundesregierung muss nun die Gesetze ändern. Sanktionen sind weiterhin möglich, allerdings nur noch bis zu 30 Prozent. Sie können bei „Meldeversäumnissen" verhängt werden, also wenn etwa Termine nicht wahrgenommen werden. sbh
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