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App hilft durchs Chaos auf Lesbos

Die Juristenorganisation Elil unterstützt die Menschen in den überfüllten Flüchtlingslagern. Eine Smartphone-Anwendung soll ihre Arbeit nun erleichtern.

Tausende Menschen, wenige Beamte, viel Stress. Griechische Flüchtlingslager sind überfüllt. Wer dort einen Asylantrag stellt, muss lange warten. Viele Menschen wissen nicht, welche Rechte sie haben. Zugang zu einem Rechtsanwalt? Oft Fehlanzeige.


Das Team der European Lawyers in Lesvos (Elil) will das ändern. Die Nichtregierungsorganisation ist auf der griechischen Insel Lesbos aktiv. Die Juristen unterstützen dort Geflüchtete bei Asylanträgen, geben Workshops oder verteilen Flyer mit Informationen zur rechtlichen Situation der Migranten. „Jeder Mensch, der an den EU-Außengrenzen ankommt, hat Anspruch auf unabhängige Rechtsberatung", sagt Cord Brügmann. Der 49 Jahre alte Rechtsanwalt hat das Projekt initiiert und berät es heute ehrenamtlich. Immer wieder reist er nach Lesbos und koordiniert die Arbeit der Helfer.


Seit 2016 hat Elil nach eigenen Angaben 172 Juristen aus 18 Ländern nach Lesbos geschickt. Der Kern des Elil-Teams sind zwei griechische Anwälte, ein Koordinator, ein Finanzmanager und mehrere Übersetzer. Sie werden unterstützt von bis zu sechs Freiwilligen aus Europa, die für mindestens drei Wochen ihren Schreibtisch in den Kanzleien gegen die Arbeit mit den Geflüchteten eintauschen.


Viele Migranten, mit denen die Elil-Helfer arbeiten, wissen nicht, welche Rechte sie haben. Kennen den Prozess nicht, der mit ihrer Ankunft startet. In der Beratung gehe es deswegen um simple Bedürfnisse, sagt Brügmann: „Sie wollen wissen, was auf sie zukommt."

Die Grundidee von Elil: Individuelle Gespräche wie in einer Anwaltskanzlei. Keine Massenabfertigung, sondern ein Verhältnis auf Augenhöhe. „Anwaltliche Werte sind uns wichtig", sagt Brügmann.


Das Problem: Im Flüchtlingscamp Moria ist Platz für rund 3100 Menschen. Inzwischen leben knapp 18 000 dort. Viele Menschen, viel Gesprächsbedarf, aber nur wenige Helfer. Vor den Containern, in denen die Juristen von Elil arbeiten, bilden sich oft lange Schlangen.

Außerdem verlassen die ehrenamtlichen Helfer die Elil-Kanzlei nach einiger Zeit wieder. Mit jedem Personalwechsel sei Wissen verloren gegangen, sagt Brügmann. „Das war eine große Herausforderung."


Michael Grupp hatte die passende Lösung. Der 36 Jahre alte Jurist ist Geschäftsführer von Bryter. Das Unternehmen ist ein Dienstleister großer Wirtschaftskanzleien und bietet eine Plattform an, mit der Anwendungen ohne Programmierkenntnisse erstellt werden können. Nach dem Baukastenprinzip können Entscheidungsbäume digital abgebildet werden. Ein App-Baukasten.


„Bryter wird eigentlich von Rechtsabteilungen oder Kanzleien benutzt, die repetitive Aufgaben abbilden", sagt Grupp. Die Juristen bauen sich ihre eigene App. Programmierkenntnisse brauche man dafür nicht, erklärt der Bryter-CEO.


Diesen App-Baukasten stellt Bryter den Juristen auf Lesbos seit Spätsommer 2019 zur Verfügung - kostenfrei: „Ein riesiger Gewinn für uns", sagt Cord Brügmann. Mithilfe der Plattform seien die bürokratischen Abläufe der Helfer viel effizienter geworden.


Das Gespräch, das Erfassen der Daten, das Kopieren der Dokumente, das Einsortieren an der richtigen Stelle: „Früher hat das mit der Hand 15 oder 20 Minuten gedauert, jetzt geht es in einem Bruchteil der Zeit und gleichzeitig ist alles digitalisiert", sagt Grupp. So strukturiert, gehe auch der Wechsel von Anwältin A zu Anwältin B reibungslos über die Bühne.


Und die Juristen wollen die App erweitern: „Üblicherweise kommt ein Flüchtlingsmandant mit einer Plastikhülle voller Dokumente in das erste Gespräch", sagt Brügmann. Unsortiert, ohne Überblick. Das soll künftig anders sein: Schon vor dem ersten Gespräch erfährt er über die Bryter-App, welche Dokumente wichtig sind und kann erste Angaben zu seiner Person machen. „So kann man sich auf das Gespräch vorbereiten, es schafft Vertrauen und bringt einen Zeitgewinn", sagt Brügmann.


Die Technologie ist da - warum sollte man sie nicht nutzen, fragt Michael Grupp: „Die meisten Migranten haben ja ein Smartphone." Was in der Compliance-Abteilung eines großen Unternehmens funktionieren, klappe auch auf Lesbos.


Die Hilfe ist dringend nötig: „Die Geflüchteten auf Lesbos leben im Chaos", sagt Dora Vangi, die für die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen in Griechenland arbeitet und wöchentlich die Camps auf den griechischen Inseln besucht. In dem überfüllten Camp leben die Menschen unter schlechten Bedingungen: „Es gibt eine Toilette für 90 Menschen, eine Dusche für 200 Menschen", berichtet Vangi. Viele Menschen hätten Angst, trauten sich nachts nicht auf Toilette.


„Die Lage auf Lesbos ist katastrophal", sagt auch Ionna Zacharaki. Die 56-Jährige ist Referentin der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe und engagiert sich seit Jahren auf Lesbos. Auch aus persönlichen Gründen: Ihr Mann stammt von der Insel.


Für ihr Engagement erhielt Zacharaki Anfang Dezember das Bundesverdienstkreuz. Ein Auszeichnung, die antreibt, denn: „Der Winter steht vor der Tür und die Menschen sind darauf nicht vorbereitet." Viele lebten in Zelten, die nicht winterfest seien, berichtet Zachararki - und stetig kämen neue Flüchtlinge: „Unsere Partner vor Ort berichten, dass täglich etwa drei Boote mit je 40 Menschen die Insel erreichen."


Schon Ende November hatte der Chef des UNO-Flüchtlingshilfswerks, Filippo Grandi, nach einem Besuch der Insel die Situation im Lager als katastrophal bezeichnet und Solidarität von anderen europäischen Staaten verlangt.


Auf den griechischen Inseln kommt es immer wieder zu dramatischen Szenen: Gewalttätige Proteste, Kinder, die sich selbst verletzen, Todesfälle. Seit Jahren fordern die griechische Regierung deswegen Unterstützung: Griechenland habe die Grenzen seiner Kapazität erreicht, sagte Ministerpräsident Kyriakos Mitsotakis zuletzt Mitte Dezember. Pro Tag nehme sein Land 400 bis 500 Menschen auf.


500 Menschen pro Tag - das bedeutet nicht nur: Schlafplätze, Lebensmittel und Gesundheitsversorgung organisieren. Die Neuankömmlinge sind auch eine Herausforderung für die Bürokratie. „Im Camp auf Lesbos betreuen drei Mediziner des griechischen Gesundheitsministeriums knapp 18 00 Menschen", berichtet Dora Vangi. Auch andere staatliche Stellen, die mit den Geflüchteten zu tun hätten, seien hoffnungslos unterbesetzt und überarbeitet. Termine zum „Asyl-Interview", also der Anhörung durch griechische Beamte, gebe es teilweise erst nach einem Jahr Wartezeit.


Viel Arbeit bleibt deswegen an Freiwilligen und Nichtregierungsorganisationen hängen: „Die ehrenamtlichen Helfer sind alle an der Belastungsgrenze", sagt Ioanna Zacharaki. „Die hoffnungslose Situation der Menschen macht die Arbeit der Helferinnen und Helfer schwierig", sagt auch Brügmann. Die Bryter-App werde immerhin für ein wenig Entlastung zu sorgen, hofft der Rechtsanwalt.


Künftig auch auf anderen griechischen Inseln: Demnächst soll auf Samos eine Elil-Kanzlei aufgebaut werden. Vorher heißt es aber, das neue System kennenlernen: Im Frühjahr reist ein Team von Bryter nach Lesbos und schult die Elil-Juristen im Umgang mit der Plattform.


Dem Juristen Brügmann geht es mit seinem Engagement nicht nur um Soforthilfe, sondern auch um etwas Grundlegendes: Wie medizinische Ersthilfe, sauberes Wasser oder eine hygienische Versorgung müsse auch die Rechtsberatung Teil humanitärer Erste-Hilfe sein. Dass die EU-Staaten sich dabei zurückhalten, ist für Brügmann ein Skandal: „Es ist eine Schade, dass Rechtsberatung privat organisiert werden muss."

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