Milan Kundera und Blixa Bargeld sind auch schon da. Während der eine Doppelgänger, ein erstaunlich getreues Abbild des tschechischen Romanciers, sich mit schelmisch funkelnden Augen hinter einer Zeitschrift mit unaussprechlichem Namen in seiner Leseecke verschanzt hat, stapft der vermeintliche Blixa mit energisch ausgestellten Fußspitzen in der Musikabteilung umher. In die Stirn gezogener Fedora-Hut, der verhangene Blick von sorgfältig drapierten Haarsträhnen flankiert, schwarze Kluft: Kein Zweifel, der Mann ist stets bereit für den großen Auftritt - bloß befindet sich seine Bühne irgendwo zwischen einem Dutzend Regalwänden, zwischen Beatles-Lexikon, Kammermusiknoten und Rameau-Partituren.
Die Doubles von Blixa und Milan gehören gewissermaßen zum Bestand der Hauptbücherei Wien am Urban-Loritz-Platz. Ebenso wie 320.000 Bücher, knapp 67.000 CDs, DVDs und Konsolenspiele sowie Hunderte Zeitungen und Zeitschriften, verfügbar in 15.000 Exemplaren. Das lang gestreckte, terrakottabraune Gebäude mit der imposanten Freitreppe ist die größte öffentliche Bücherei des Landes.
660.000 Menschen kamen im vergangenen Jahr in den Bau, der seiner charakteristischen Form wegen Bücherschiff genannt wird. Die meisten streben mit nähmaschinenengen Schritten ins Innere, ziehen Nachschub aus den Borden - und schon sind sie wieder fort.
Andere bleiben länger, viel länger. Hausen sich für viele Stunden hinter Büchern, Lernskripten, Ratgebern oder ihren Notebooks ein, auf einem der 450 Lese- und Arbeitsplätze, die sich auf zwei Geschosse verteilen, irgendwo zwischen 16.500 Regalmetern Wissen.
Als vor 140 Jahren die ersten Volksbüchereien gegründet wurden, war das eine Revolution. Jedem Arbeiter, jedem Bürger wurde Bildung und Information frei zugänglich gemacht. Lange Jahre zehrten die heute insgesamt 13.000 Büchereien in Österreich von ihrem Selbstverständnis als niederschwellige Bildungsinstitution, die gegen einen kleinen Obolus Bücher ausgab und ansonsten für Ruhe auf den Leseplätzen sorgte.
Doch nun tobt eine Revolution, an deren Ende nicht weniger als die Daseinsberechtigung von Büchereien infrage gestellt werden könnte. Ausgelöst wurde sie vom digitalen Wandel, dank dem Fachbücher, Belletristik, Musik jederzeit und überall verfügbar sind. Wofür Medien systematisieren und vorhalten, wenn jede Information nach ein paar Swipes aufs Smartphone-Display geholt werden kann? Warum sich an anachronistische Öffnungszeiten und Ausleihfristen halten? Wie gegen die Macht von Multis wie Google oder Amazon bestehen, die längst ins Verleihgeschäft eingestiegen sind?
"Jede öffentliche Bücherei ist zuerst einmal ein Ort der Aufklärung", sagt Christian Jahl, Leiter der Hauptbibliothek, wenn er auf diese Fragen angesprochen wird. Das meint der 58-jährige Bibliothekar weder kokett noch als Durchhalteparole, sondern ziemlich grundsätzlich. "Es ist nun einmal unsere Aufgabe, in unserem Bestand unterschiedliche Meinungen und Themen abzubilden. In einer Bücherei gibt es Orientierung ohne Fake-News und Verschwörungstheorien. Und damit bieten wir eine Verlässlichkeit, die in Zeiten wie diesen schon einmal ein Wert an sich ist."
Ende der Leseprobe.