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Radikalislamische Wege zum Erfolg

Warum sind dem "Islamischen Staat im Irak und Syrien" bisher nie dagewesene Gebietszugewinne gelungen? Kämpfer der ISIS posieren für die Propaganda.

Auf den ersten Blick sind die Zahlen der irakischen Armee beeindruckend: 250.000 Mann unter Waffen, funktionstüchtige Panzer, Flugzeuge, moderne Hubschrauber und Fahrzeuge amerikanischer Produktion. Trotzdem gelang es der Gruppe "Islamischer Staat im Irak und Syrien" (ISIS) vergangene Woche, große Teile des Nordwestens des Irak unter seine Kontrolle zu bringen - ohne Panzer und Kampfjets und mit einer geschätzten Mannstärke von 7.000 bis maximal 20.000 Kämpfern.

Dabei sah es für die radikalen Islamisten Anfang des Jahres gar nicht so gut aus. In Syrien musste ISIS gegen zahlreiche andere Rebellengruppen kämpfen - nicht immer mit Erfolg. Trotzdem gelang nun die Expansion im Irak. Nur Wie?

Frustration: Im Irak, wo die Gruppe 2006/2007 schon knapp vor ihrer Vernichtung stand, ist der Aufstieg zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Premierminister Nuri al-Maliki zu verdanken. Der Schiit Maliki verabschiedete zahlreiche Antiterrorgesetze, die in erster Linie gegen Sunniten gerichtet und eingesetzt wurden. Die klar antisunnitische Rhetorik ließ die Frustration unter den Sunniten über die Regierenden in Bagdad weiter steigen. Und schließlich wurden die irakischen Sicherheitskräfte systematisch durch schiitische Milizen unterwandert, wodurch das Vertrauen in die irakischen Staatsinstitutionen unter Nichtschiiten weiter erschüttert wurde. Baathisten: Der Vormarsch von ISIS ist - anders als es die islamistische Propaganda glauben machen will - nicht ihr allein geschuldet. Sufi-baathistische Milizen - bekannt als die "Armee der Männer des Naqshbandi-Ordens" - sollen führend an der Offensive in Mossul beteiligt gewesen sein. Bereits 2009 warnten die US-Besatzer vor dieser Gruppe, da sie in den Augen der USA besser als Al-Kaida in der Lage war, Allianzen mit der lokalen Bevölkerung zu bilden. Am stärksten vertreten sind die Baathisten ausgerechnet in Mossul, wo die ISIS in den vergangenen Tagen ihre größten Erfolge feiern konnte. Dabei sind viele Sunniten im Irak keine großen Anhänger der besonders radikalen Auslegung der islamischen Gesetzgebung, die ISIS vertritt. Aber die Aussicht, weiterhin unter der stark konfessionell geprägten Politik von Premier Maliki leben zu müssen, trieb viele in die Arme der ISIS, die vielerorts als nicht perfekt, aber als geringeres Übel angesehen wird. Klare Botschaft: Dass sich trotzdem viele Sunniten ausgerechnet von der rücksichtslos agierenden ISIS angesprochen fühlen, ist der Klarheit ihrer Botschaft zu verdanken. Im syrischen Bürgerkrieg gibt es zahllose Gruppen mit islamistischen Zielen, darunter auch Gruppen wie die Jabhat an-Nusra, die anders als ISIS einen Treueeid auf die Al-Kaida-Führung geleistet hat. Aber im Gegensatz zu allen anderen Islamisten in der Region will die ISIS keinen islamischen Staat mehr gründen - sie hat ihn bereits gegründet. Trotz der teilweise brutalen Vorgehensweise der ISIS ist die Absicht, einem real existierenden islamischen Staat zum Durchbruch zu verhelfen und ihn zu vergrößern, ein attraktives Angebot an Islamisten in der Region. Hinter dieser klaren Botschaft steht auch der Wille, dies kompromisslos durchzusetzen - wenn notwendig in den eigenen Reihen. Während in von anderen syrischen Rebellen kontrollierten Gebieten oft Chaos, aber vor allem auch Korruption vorherrschen, versucht ISIS dies durch rigide Maßnahmen zu verhindern. Zumindest nach außen hin wird die Gruppe dadurch attraktiver. Geld: Dieser real existierende islamische Staat ist auch der Grund für den Erfolg der ISIS, wenn es um das Sammeln von Geldern geht. Warum soll ein reicher Geldgeber aus den Golfstaaten eine Vision eines islamischen Staates einer anderen syrischen Rebellengruppe finanzieren, wenn es diesen Staat schon gibt? Und in diesem von der ISIS kontrollierten Staatsgebilde gibt es zusätzlich einiges, was ISIS Geld bringt: Fabriken, Ölfelder und Produktionsanlagen. Nicht umsonst gilt ISIS als eine der reichsten islamistischen Organisationen. Der Überfall auf die Filiale der irakischen Zentralbank, der den Islamisten mehr als 400 Millionen US-Dollar eingebracht haben soll, war sicherlich auch hilfreich. Darüber hinaus bedient sich die ISIS maßgeblich üblicher Methoden der Geldbeschaffung: Entführungen, Schmuggel und Überfälle - auch auf andere Rebellengruppen. Strategie: Denn die ISIS sucht sich seine Ziele strategisch klug aus. Bisher griffen die radikal-islamischen Kämpfer vor allem dann an, wenn es für sie gewinnbringend war. Dabei sind für die ISIS alle - einschließlich anderer islamistischer Rebellen in Syrien -, die sich dem islamischen Staat nicht unterwerfen, legitime Ziele. Während die anderen Rebellengruppen Syriens sich zahlreiche Schlachten mit Assads Truppen liefern, attackiert die ISIS genau diese Rebellen. Assad hingegen ging man bisher großteils aus dem Weg. Zulauf: Strategisch und taktisch ist die Gruppe in der Vergangenheit dabei nie so erfolgreich gewesen wie jetzt. Zu verdanken hat sie dies möglicherweise dem Zulauf von zahllosen sunnitischen Militäroffizieren und Soldaten aus der Ära Saddam. Zwar dürfte die oberste Führung der ISIS ihre Wurzeln klar im radikal-islamischen Milieu haben. In der zweiten Reihe finden sich jedoch Experten mit starken Verbindungen zur ehemaligen irakischen Armee, die nach dem US-Einmarsch 2003 aufgelöst wurde. Im Syrien-Krieg konnte dieses Know-how dann angewendet werden. Es war der ideale Rückzugsort für die im Irak geschwächte Gruppe, um sich neu aufzustellen, Erfahrungen und Gelder zu sammeln und sich für den entscheidenden Schlag im Irak beinahe ungestört vorzubereiten. Die vergleichsweise wenigen Kämpfer der ISIS sind also hochmotiviert, besser trainiert und aufgrund des Reichtums der Gruppe auch ausgezeichnet ausgestattet.

Aber so bedeutend diese Stärken auch sind, viel wichtiger für den Erfolg der vergangenen Tage der ISIS sind wohl die Schwächen ihrer Gegner:

In Syrien sind die Gegner der ISIS stark fragmentiert. Obwohl die radikalen Islamisten des Islamischen Staates beinahe alle Rebellengruppen als genauso legitimes Ziel wie die Assad-Truppen betrachtet, ist es der bewaffneten syrischen Opposition lange Zeit nicht gelungen, eine einheitliche Front gegen die ISIS zu bilden. Vor allem syrische Jihadisten zögerten anfänglich, ihre "Brüder im Jihad" anzugreifen. Umgekehrt legte die ISIS hingegen weniger Zurückhaltung an den Tag, wenn es darum ging, andere jihadistische Gruppierungen in Syrien zu attackieren. Im Irak dagegen kommt die mangelnde Professionalität der irakischen Streitkräfte ISIS entgegen. Anders als gemeinhin dargestellt hat sich die irakische Armee auch nicht von einem Tag auf den anderen in Mossul aufgelöst. Auflösungserscheinungen waren schon länger ersichtlich. Berichte über Korruption und Insubordination standen an der Tagesordnung. Am Tag des Angriffs ließen vor allem Sunniten schnell die Waffen fallen - für Malikis schiitisch dominierte Regierung zu sterben lohnte sich offensichtlich nicht. Auch das Training dürfte bei einigen irakischen Truppenverbänden zu wünschen übrig gelassen haben. Das trifft nicht auf alle Verbände zu - speziell jene Verbände, die in und um Bagdad stationiert sind, werden nicht so leicht zu schlagen sein wie jene in Mossul.

Diese Verbände sind auch die Hoffnung von Premier Maliki und zahllosen Schiiten, die sich für Milizverbände melden. Ausgang ungewiss. (stb, derStandard.at, 23.6.2014)

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