Eigentlich wollte Moritz Seger* seinen Bruder nach diesem Abend nicht mehr wiedersehen. Den Kontakt abbrechen, den Kampf aufgeben. "Wenn das einfach ein Kumpel gewesen wäre, hätte ich das wahrscheinlich auch gemacht", sagt Seger. "Aber er ist halt mein Bruder."
Das Treffen liegt nun einige Monate zurück, Moritz Seger - so erzählt er es - sitzt an jenem Abend mit einem Freund in der Dorfkneipe seines Heimatorts. Sie haben sich länger nicht gesehen, plaudern und trinken. Dann stößt Segers Bruder dazu. Als die drei über Donald Trump sprechen, wird das Gespräch hitzig, die beiden Brüder reden lauter. Bis die Situation eskaliert: "Wir saßen mitten in der Kneipe und haben uns nur noch angeschrien."
Was sonst vielleicht eine politische Diskussion anstoßen würde, wird bei den beiden Brüdern zu einer Verhandlung über die Realität. Moritz Seger glaubt nicht, dass Donald Trump von einer höheren Macht zum Retter der Welt auserkoren wurde. Und er glaubt nicht, dass Trump gegen einen Ring aus Politikern und Prominenten kämpft, der Kinder entführt und missbraucht.
Sein Bruder sehr wohl. Denn der ist Anhänger der QAnon-Bewegung.
QAnon ist im Kern eine klassische Verschwörungserzählung. Aber keine andere verbreitet sich aktuell mit einer vergleichbaren Dynamik. Es gibt die Bösen: eine satanische Elite, die versucht, die Weltherrschaft zu erlangen, und sich dabei an Kindern vergreift. Diese Elite führt den sogenannten Deep State an, einen geheimen Staat im Staat. Ihm sollen etwa Hillary Clinton und der US-Investor George Soros angehören. Und dann gibt es die Guten, allen voran US-Präsident Donald Trump, der den Kampf gegen den Deep State aufgenommen habe.
Das klingt abstrus. Und doch findet QAnon immer mehr Anhänger - auch in Deutschland. Der Popsänger Xavier Naidoo und der Promi-Koch Attila Hildmann verbreiten die Theorien in ihren Videos. Die Mitgliederzahlen deutschsprachiger QAnon-Gruppen in den sozialen Medien sind zuletzt explodiert. Und auf der Demo gegen die Corona-Politik am vergangenen Samstag schwangen QAnon-Anhänger ihre Fahnen. Auch die QAnon-Aktivistin Tamara K. war dort und verbreitete in einer Rede die Falschmeldung, dass Trump in Berlin sei. Anschließend rief sie mutmaßlich dazu auf, die Treppen vor dem Reichstagsgebäude zu stürmen.
Das FBI hat schon vor einem Jahr vor QAnon gewarnt. Anhänger solcher Verschwörungsmythen stellten eine zunehmende Terrorgefahr dar. Zu diesem Zeitpunkt waren QAnon-Anhänger in den USA bereits durch Gewalt aufgefallen. Im März 2019 erschoss einer von ihnen den Mafiaboss Frank Cali vor dessen Haus, weil er glaubte, Cali sei ein Agent des Deep State. Auch Tobias R., der im Februar dieses Jahres zehn Menschen in Hanau ermordete, glaubte offenbar an Motive der QAnon-Erzählung.
Verschwörungstheorien sind so alt wie die Menschheit. Und wie verführerisch sie sein können, das kann Moritz Seger am Beispiel seines Bruders schon länger beobachten. Seit über zwanzig Jahren streiten sie darüber, ob es Chemtrails gibt oder die Mondlandung ein Fake war. Mit QAnon habe der Konflikt jedoch eine neue Stufe erreicht: "Bei dem Gespräch in der Kneipe habe ich gemerkt, wie gefährlich das ist. Plötzlich gibt es einen realen Feind, gegen den man kämpft. Das konnte ich nicht einfach als Spinnerei abtun."