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Chile: Der lange Weg raus aus der Pinochet-Diktatur

"Apruebo" - ich stimme dafür - liest man im Zentrum von Hauptstadt Santiago an den Wänden, auf gebastelten Plakaten und auf der Haut der Menschen, die hier seit Oktober gegen die soziale Ungleichheit, gegen die Regierung und für eine neue Verfassung demonstrieren. Am 26. April dürfen die Chilenen und Chileninnen in einer Volksabstimmung darüber entscheiden, ob sie eine neue Verfassung wollen oder die alte beibehalten. Die aktuell in Chile gültige Konstitution stammt noch aus der Pinochet-Diktatur und bildet die Grundlage des neoliberalen Wirtschaftssystems, das einige wenige bereichert und viele verarmt hat.

"Piñera ist ein Mörder, genau wie Pinochet", singen Zehntausende Menschen jeden Freitag am Plaza Italia, den viele mittlerweile Plaza Dignidad - Platz der Würde - nennen. Sebastián Piñera ist der aktuelle Präsident Chiles, ein Konservativer, Milliardär und Unternehmer. Viele Chilenen beschuldigen ihn, der politischen Lage im Land lange tatenlos zugesehen zu haben: Mehr als 30 Menschen sind seit dem Beginn der Proteste gegen die Regierung ums Leben gekommen, Tausende wurden verletzt. Wer hier demonstriert, trägt Helm, Schutzbrille und Gasmaske, zumindest aber ein Halstuch vor Nase und Mund, um sich gegen das Tränengas und mögliche Schüsse der zu schützen.

Der Platz ist nicht nur Treffpunkt der Protestierenden, sondern auch die Trennlinie zwischen Arm und Reich in . Man wohnt entweder oberhalb oder unterhalb davon. "Unten", das heißt im Südwesten in Vierteln wie Pudahuel, Maipú oder San Bernardo, leben die meisten Menschen vom Mindestlohn, es gibt kaum Parks, dafür viel Gewalt und Drogenhandel. Wenn man nach "oben" fährt, das heißt Richtung Nordosten nach Providencia, Las Condes und Vitacura, dann wird die Luft sauberer, die Parks werden grüner, die Häuser schicker und die Löhne steigen. Hier lebt das eine Prozent der Bevölkerung, das ein Drittel des Reichtums besitzt.

Auch hier wird immer wieder protestiert, nur ganz anders als am Plaza Italia. Jeden Samstagmorgen treffen sich ein paar hundert Menschen im Stadtviertel Las Condes an der Metrostation El Golf gleich neben dem Ritz-Carlton-Hotel oder eine Station weiter vor der Militärakademie, um dafür zu protestieren, dass alles so bleibt, wie es ist. Sie tragen professionell bedruckte T-Shirts und Kappen, wehen die chilenische Nationalflagge und halten auf Hochglanzpapier gedruckte Plakate hoch. "Rechazo" - ich lehne ab - steht darauf. Sie wollen keine neue Verfassung. "Aquí falta Pinochet", hier fehlt Pinochet, steht auf einem Schild. Sie singen die Hymne der Carabineros, der Polizei. Gasmasken trägt niemand, Tränengas setzt die Polizei hier nicht ein. Menschenrechtsverletzungen habe es in Chile nie gegeben, meint man hier.

Politiker verbreiten Angst vor einer kommunistischen Verschwörung

Die meisten, die in den reichen Vierteln auf die Straße gehen, haben helle Haut, Haare und Augen. Viele haben europäische Vorfahren, so wie Gloria Welder, um die 70. "Ich habe deutsches Blut", sagt sie. Sie protestiert gegen die Rückkehr des Kommunismus. "Wir haben das schon einmal durchgemacht und es darf nicht noch einmal passieren." Damit meint sie die Regierung des demokratisch gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Die wurde 1973 mit einem Militärputsch von Augusto Pinochet gewaltsam gestürzt. Welder glaubt, was aktuell in Chile passiert, werde aus Kuba und Venezuela kontrolliert und vom Drogenhandel finanziert. "Oberhalb vom Plaza Italia haben wir noch unsere Ruhe, aber nicht mehr lange. Deshalb müssen wir den Krebs des Kommunismus ausmerzen", sagt sie.

"Der Anti-Kommunismus ist in der chilenischen Rechten erstaunlicherweise immer noch stark verbreitet. Und das, obwohl es keine Sowjetunion und keine starke internationale Linke in Lateinamerika mehr gibt", sagt Politikwissenschaftler Octavio Avendaño. In sozialen Netzwerken, in Tageszeitungen und Fernsehsendungen verbreiten Politiker regelmäßig Angst vor einer kommunistischen Verschwörung, die hinter den Protesten und der Forderung nach einer neuen Verfassung stecke. "Eine rote Pest hat Chile erfasst ", schrieb Cristián Valenzuela, Mitglied der rechtsextremen Republikanischen Partei in der Tageszeitung La Tercera, "Tausende Chilenen leiden unter dem kommunistischen/sozialistischen/marxistischen Parasiten, der sich in unserer Gesellschaft niedergelassen hat". Andrés Allamand, Abgeordneter der Partei Renovación Nacional (RN), zu der auch Präsident Piñera gehört, warnte in der Zeitung El Mercurio vor linken Ideen in einer möglichen neuen Verfassung.

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