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Schlagkräftig in Chile

In Chile ist der Protest gegen Sexismus an Unis zur Massenbewegung geworden. © rtr

Studierende besetzen seit Monaten die Universitäten in Chile. Nun zeigt ihr Protest gegen Sexismus in der Bildung erste Erfolge.


Zu Tausenden protestieren sie in den Straßen von Santiago de Chile. „Nein heißt nein", rufen sie und „wir werden das Patriarchat stürzen". Auf einem Plakat steht: „Machos werden nicht geboren, die chilenische Bildung macht sie dazu". Viele demonstrieren mit freiem Oberkörper, ihre Haut ist bunt bemalt, viele Gesichter maskiert. So wollten sie auf die Sexualisierung ihrer Körper aufmerksam machen, erklärt eine Demonstrantin. „Wir protestieren für eine Bildung ohne Sexismus, ohne Belästigung und ohne Missbrauch", ruft sie gegen den Lärm an. Viele Frauen trommeln, singen, tanzen. Der Marsch ähnelt einem großen, bunten Fest - bis die Polizei mit Tränengas und Wasserwerfern gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten vorgeht.

Es war der dritte Protestmarsch, zu dem die nationale Studentenkonföderation in Chile in diesem Jahr aufrief und der erste, der sich speziell gegen Sexismus in der Bildung richtete. Mehr als 100.000 Studierende beteiligten sich in ganz Chile, rund ein Viertel von ihnen in der Hauptstadt Santiago.

Das Thema Sexismus bestimmt die Proteste

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Studentenbewegung, dass das Thema Sexismus die Proteste bestimmt. Mehr als 20 Universitäten in Chile waren zwischenzeitlich besetzt oder im Streik, Schulen schlossen sich der Bewegung der „tomas feministas", der feministischen Besetzungen an. Auslöser war ein Fall an der Universidad Austral in Valdivia, im Süden Chiles. Dort hatte ein Professor eine Mitarbeiterin der Universität sexuell missbraucht.

An der Universidad de Chile in der Hauptstadt Santiago war es der Fall von Sofía Brito, der die Besetzung auslöste. Die 24-jährige studiert Jura. Ihre lockigen Haare hat sie zu einem Zopf gebunden. Sie sieht müde aus. Zu oft musste sie ihre Geschichte schon erzählen. Drei Jahre lang hatte sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin für ihren Professor Carlos Carmona gearbeitet, den ehemaligen Präsidenten des chilenischen Verfassungsgerichts. Er habe sie mehrfach ohne ihre Zustimmung berührt, sagt die Studentin. Als sie ihn auf die Grenzüberschreitung hinwies, habe er gesagt, er wolle keine Grenzen in ihrer Beziehung akzeptieren.

Vor fast einem Jahr zeigte sie den Fall an, doch die Universität reagierte lange nicht. Carmona wurde zwar mittlerweile suspendiert, aber die Studentinnen fordern seine Entlassung.

Mit den Protestaktionen wollten sie aber nicht nur auf den Fall von Brito aufmerksam machen, sondern auf den aus ihrer Sicht strukturellen Charakter des Sexismus an chilenischen Universitäten. „Mein Fall ist keine Ausnahme, er brachte nur das Fass zum Überlaufen", sagt auch Brito. „Wir fordern eine Bildung ohne Sexismus im ganzen Land, um diese Situationen zu vermeiden."

Nach 70 Tagen beendeten die Studentinnen der Universidad de Chile im Juli ihren Streik. Sie haben inzwischen erreicht, dass an vielen Universitäten Protokolle gegen sexuelle Belästigung und für Opferschutz eingeführt wurden. Und sie haben Themen wie Sexismus, Missbrauch und Belästigung in die Öffentlichkeit gebracht. Aber ihr Kampf ist noch lange nicht beendet. „Es geht hier nicht nur um uns Studentinnen, sondern um alle Frauen. Ich glaube, dass wir einen historischen Moment als feministische Bewegung erleben", sagt Brito.

Nicht nur Studentinnen lehnen sich gegen Sexismus auf

Der aktuelle Protest in Chile ist die größte Frauenbewegung seit dem Ende der Militärdiktatur 1990. Nicht nur die Studentinnen lehnen sich gegen Sexismus auf. Auch die Bewegung „Ni Una Menos" gegen Frauenmorde und sexualisierte Gewalt hat starken Zulauf. Und durch die Debatte in Argentinien erhielten auch die Abtreibungsbefürworter neuen Antrieb. Am 25. Juli gingen mehr als 100.000 Menschen in verschiedenen Städten Chiles für legale Abtreibung auf die Straße.

Der Widerstand ist groß: Bei dem Protestmarsch in Santiago wurden drei junge Frauen von Abtreibungsgegnern mit Messern attackiert. In Chile sind Schwangerschaftsabbrüche erst seit 2017 in drei Fällen erlaubt, bei Vergewaltigung, Lebensgefahr der Mutter und bei Missbildungen des Fötus. Davor waren Abtreibungen unter allen Umständen illegal.

„Auch wenn es weltweit eine feministische Bewegung gibt, ist die Besonderheit in Lateinamerika die Auflehnung gegen die Frauenmorde", beschreibt Silvia Lamadrid, Soziologin und Professorin an der Universidad de Chile, die aktuelle Lage. „Ich glaube gar nicht unbedingt, dass bei uns mehr Frauen ermordet werden, aber wir sprechen darüber." Das sei die Basis für die Proteste der Studentinnen.

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