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Interview

Mercedes Lauenstein: Blanca

„Der Journalismus ist mein Beruf, aber die Literatur meine Berufung, schon allein, weil ich so gerne lüge und all die Lügen irgendwohin müssen. Ich tue mir häufig schwer, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, in meinem Kopf entstehen ständig Geschichten. Und ich glaube, dass diese Lügengeschichten genau dasselbe Existenzrecht haben, wie die Realität.“


Im Gespräch mit Mercedes Lauenstein läuft man stets Gefahr, in eine komplizierte Metaebene abzudriften, weil das Journalistinnen, die sich in regelmäßigen Abständen gegenseitig interviewen,  gerne automatisch tun – sich in den Ursprüngen ihrer intellektuellen Materie verstricken.


Ihr zweiter Roman „Blanca“ ist nicht minder anspruchsvoll; er tut zunächst so, als sei er ein harmloser, jugendlicher Roadtrip und entpuppt sich als verschachtelte, philosophische tour de force. Die Münchner Autorin schickt ihre 15jährige Protagonistin auf eine Odyssee durch Italien, weil sie das Vagabundendasein ihrer jungen, exzentrischen Mutter nicht länger erträgt. Sie bricht zunächst nach Florenz auf, um von dort zur Halbinsel Monte Argentario zu gelangen. Abgelenkt von flüchtigen Bekanntschaften, Unsicherheit ob des bevorstehenden Wiedersehens mit einer temporären Ersatzfamilie, dem Verlust ihres Geldes und unvorhergesehenen Zwischenfällen nimmt das Manöver unerwartete, abstruse Wendungen. Der Irrweg gipfelt in einer aberwitzigen, verzweifelten Pilgerreise, die Blanca an den Rand ihrer Kräfte geraten lässt.


Superpaper: Mercedes, wie hast du – journalistisch betrachtet – das Wesen der 15jährigen Blanca recherchiert?


Mercedes: Ich mochte Coming of Age-Geschichten schon immer. Mit 15 fühlte ich mich selbst oft wie eine Romanfigur, ich habe „Demian“ von Hermann Hesse gelesen und fand alles wahnsinnig krass. In meiner Familie gab es viele Probleme und mir war immer klar, dass ich über diese Lebensphase etwas zu erzählen habe. Und dass es das Buch, nachdem ich mich sehnte, nicht gab und dass ich es deshalb selbst schreiben musste. Man steht mit 15 so ungeformt, ratlos und unerfahren vor dem Leben steht. Es ist ja erst 15 Jahre her, dass man geboren wurde. Ich glaube, dass etwas von dieser Ratlosigkeit trotz aller späteren Reifeprozesse immer in uns bleibt. Und deshalb finde ich 15 ein ziemlich zeitloses Alter.


Superpaper: Mit 15 beginnt man vielleicht auch, selbst zu schreiben, und zu reflektieren, als Person sowie als Frau. Die Romanfigur steht quasi dazwischen – sie hatte noch keine Periode, aber bereits Sex. Mit dieser existenziellen Zeit setzen sich viele Coming of Age-Geschichten auseinander, sowie auch mit der Frage, ob man gezwungen ist, zu wiederholen, was Eltern einem vorgelebt haben. Gibt es eine Stelle im Buch, die eine Art Quintessenz ausdrückt? Oder ist die Aneinanderreihung von höchst kuriosen Erlebnissen und dem Vegetieren am Rande der menschlichen Kräfte dieses jungen Mädchens in der Gesamtheit ein Schlüsselmoment?


Mercedes: Die Idee gefällt mir gut, dass das Buch einen Schlüsselmoment hat, sondern im Ganzen ein einziger Schlüsselmoment ist. Es gibt aber natürlich einige Stellen im Buch, die besonders für Blancas Wesen stehen, und zwar, wenn man mit ihr in ihrem endlosen Bewusstseinsstrom unterwegs ist. Davon gab es so viele Stellen, dass wir im Lektorat immer wieder welche streichen mussten. Eine habe ich zurückgeholt, weil ich sie so wichtig fand. Sie sitzt da gerade im Zug: „Zur Ablenkung nehme ich mein Notizbuch aus der Tasche und male im Stehen hohes Gras hinein. Ich lege mich zu den einzelnen Gräsern. Ich sehe aus dem Fenster. Auf einem Haus steht die Skulptur einer Frau im Gewand, auf ihrem Kopf thront eine Taube. Ich möchte so gerne wissen, wie es ist, ein Tier zu sein. Eine Schnecke, die zur Hälfte in ihrem Haus steckt. Eine Schlange, die ein Lebewesen im Ganzen hinunterwürgt. Ich möchte Gras fressen wie eine Kuh, Eier legen wie ein Huhn, pinkeln wie ein Mann und ficken wie ein Mann. Ich will einmal blind sein und taub sein, und ich will ins Gefängnis, zu den Ureinwohnern und von einem Hubschrauber gerettet werden. Ich will ein Apfel sein mit Wurm drin, und ich will der Baum sein und Wurzeln haben. Ich will alles wissen.“ 

Diese Stelle steht sehr für ihre Neugierde, ihren wahnsinnigen Lebenshunger, aber auch ihren Schmerz, so vieles nicht zu können. So isoliert zu sein in ihrem Körper, in ihren Möglichkeiten.


Superpaper: Wir beide, Veronika und ich, empfanden das Buch als Reminiszenz an „Der Fänger im Roggen“ und Blanca wie eine moderne, weibliche Version von Holden Caulfield; die Flucht aus der Schule, eine innere Wandlung, Entdeckung der Sexualität, ein gewisses Getriebensein. Hat dich diese oder eine andere Lektüre inspiriert?


Mercedes: Während des Schreibens hatte ich einen Stapel von zirka 50 Büchern, den ich während des Schreibens überall hingekarrt habe, und war in der Hoffnung, dass sich die Essenz all dieser großartigen Bücher zu meinem eigenen Roman entwickeln würde. Faktisch habe ich fast keines davon noch einmal gelesen – und wenn, dann bekam ich sofort Minderwertigkeitskomplexe. „Der Fänger im Roggen“ war sicherlich dabei. Es hat sich rückblickend betrachtet aber nicht wie ein Vorbild angefühlt.


Superpaper: Hast du dir für das Buch eine Sprache angeeignet, von der du glaubst, sie entspräche einer 15jährigen Version von dir?


Mercedes: Nein, nicht bewusst. Ich hatte schon immer, sowohl in der Schule, als auch bei journalistischen Projekten, Schwierigkeiten mit Analyse und Struktur, ich bin quasi unfähig, ein ausgeklügelte Konzepte zu entwerfen. Ich muss blind drauf los schreiben, anders geht es nicht. Das hat dieses Buch im Prozess sehr anstrengend gemacht. Immer, wenn ich feststeckte oder nicht weiterwusste, kaufte ich mir kleine neue Blöcke und Notizhefte, mit der Intention, eine klassische Heldenreise zu entwickeln, die ganze Sache endlich etwas rationaler anzugehen. Hat nie funktioniert. Nicht einmal ansatzweise. Das Buch ist auf meine eigene Weise entstanden.


Superpaper: War dir von Anfang an klar, wie das Buch endet?


Mercedes: Die Endszene hat sich mir relativ früh erschlossen, gleich beim Schreiben der allerersten Fassung. Irgendwie stand sie plötzlich da. Ich habe mir immer die Möglichkeit offen gelassen, alles noch einmal zu ändern, aber schließlich hat sie gepasst. Man kann das Ende auf sehr viele Arten lesen und interpretieren, was mir aber auch erst klar wurde, nachdem mir die ersten Leser ihre komplett unterschiedlichen Eindrücke davon geschildert haben.


Superpaper: Hast du deinem Stoff ein besonderes Anliegen zugrunde gelegt?


M: Die meisten Heldinnen, die eine solche Geschichte durchleben, werden vor einen politischen Hintergrund gestellt. Ich denke, dass es einige Kritiker geben wird, die sagen „Nett, aber das hat ja gar nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun! Wo ist denn da die Relevanz?“ – Ich wollte einfach die blanke Geschichte eines jungen Mädchens erzählen, die in ihrem kleinen Kreis schon genug Probleme hat, und nicht auch noch die Tageszeitungsdebatten mit abdecken muss. Mir ging es um ein simples, menschliches Existenzdrama.


Superpaper: Grundsätzlich muss ja – unabhängig vom pädagogischen Mehrwert – ein künstlerisches Werk, ein Buch, oder eine Fotografie, zunächst in sich funktionieren. Technisch perfekt gemacht sein. Es liegt in der Natur der Dinge, dass sich darin der Leser auf seine Weise wiedererkennen kann – ob eine politische Debatte thematisiert wird oder nicht. Findest du nicht, dass man ein Buch sowieso automatisch auf sich bezieht – unabhängig von einem gesellschaftspolitischen Mehrwert des Inhalts?


Mercedes: Sicherlich tut man das! Ich finde nur, dass die Aufmerksamkeit in der Literaturkritik oft ungleich verteilt ist. Es wird gerne so getan, als sei eine Geschichte über das Verlorensein nur dann erzählenswert sei, wenn mindestens ein Krieg und ein Diktator dahinterstehen, und das halte ich manchmal für ein wenig unfair völlig normalen menschlichen Schicksalen gegenüber, die an sich schon komplex und tragisch genug sind. Bei vielen Büchern über Flucht werden die Biografien junger Menschen ausgeschlachtet, deren Misere sich ausschließlich darauf bezieht, dass sie Krieg erlebt haben. Es kann einem aber auch einfach so verdammt scheiße geht, einfach nur, weil man eine bescheuerte Familie hat!


Superpaper: Tatsächlich sind die beiden Motive nicht weit voneinander entfernt, auch wenn es sich deine Protagonistin freiwillig aussucht, ohne Pass in ein fremdes Land zu reisen. Sie hat die vage Sehnsucht, dass da irgendwas ist, was sie kennt, jemand, dem sie vertraut und eine bessere Zukunft. Diesen Ausgangspunkt halte ich für sehr menschlich. Absolut jeder kann einen Bezug herstellen zu einer Episode, in der man sich nest- und rastlos fühlte. Und nicht weiß, ob man sich am richtigen Ort befindet und sich durch einen Partner, den Charakter der Eltern oder einen coolen Job definieren möchte. Betreffen diese Unsicherheiten denn nicht nur existenzbedrohte Flüchtlinge, sondern jeden Menschen, und eben vor allem Teenager?


Mercedes: Ja, ich fand es wichtig, dass die Geschichte auf jeden anwendbar ist, und sich eben nicht an einer aktuellen Debatte aufhängt. Blancas grundlegender Konflikt kann jeden berühren. Und tatsächlich hat sich das Schreiben stark so angefühlt, als würde ich nur eine Figur ausgraben und herausarbeiten, die schon längst da war. Die beste Reaktion auf das Buch bisher stammt übrigens von meinem Bruder, der natürlich einerseits viel von mir selbst in dem Buch erkannt hat, andererseits zum Glück auch verstanden hat, dass man es nicht als Autobiographie lesen kann. Er meinte: „Die Geschichte liest sich, als würde man dir in einem psychoanalytischen Traum folgen!“ Klar hat das Buch sehr viel mit mir selbst zu tun, ich habe es ja geschrieben, aber in Teilen ist es einfach ein verspulter Traum.




Interview: Sonja Steppan mit Veronika Minkina