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Intuition. Ein Plädoyer

Unsicherheiten am Berg rückt man mit immer präziseren Methoden zu Leibe, Risiken minimiert man durch genaue Analysen, aus denen man Muster abzuleiten versucht. Das lässt uns – vermeintlich – immer mehr Sicherheit gewinnen. Doch die ist trügerisch, denn viele Situationen am Berg verlangen eine zügige und komplexe Entscheidung. Und genau dafür ist der reine Verstand nicht gemacht.

Halt! werden manche aufschreien. Genau dafür ist er doch gut, unser Verstand! Hier ist es hilfreich, sich ein paar Zahlen vor Augen zu führen: Pro Sekunde schickt das Auge 10 Millionen Bit an Informationen ans Gehirn, 1 Million Bit sendet die Haut, 100.000 Bit die Ohren, weitere 100.000 Bit die Nase und noch einmal 1.000 Bit pro Sekunde der Geschmackssinn. In Summe sind das über 11,2 Mio. Bit.1 Dem gegenüber steht eine Verarbeitungskapazität des Gehirns von maximal 50 Bit pro Sekunde. Also, was macht es? Es filtert aus, assoziiert und ordnet in Konzepte ein. Gut so, denn wir wären sonst heillos überfordert. Der winzige Teil, der von den vielen Informationen zu uns ins Bewusstsein durchdringt, nennen wir „Wahrnehmung“. Und was passiert mit dem Rest? Dazu gibt es eine nette kleine Geschichte:


Ein Rennfahrer wurde in einem Interview gefragt2, wie um alles in der Welt es ihm gelingen konnte, einem Unfall, der sich hinter einem Tunnelausgang ereignet hatte, noch auszuweichen. Er konnte sein irrationales Bremsverhalten zunächst nicht erklären. Das ließ ihm keine Ruhe. Er dachte so lange nach, bis er in Worte fassen konnte, was ihn dazu bewogen hatte, instinktiv – und entgegen aller Gepflogenheiten – auf die Bremse zu treten: "Ich hatte am Tag vor dem Rennen ein Foto von einem Zwischenfall von 1936 gesehen. Als ich dann aus der Schikane kam, merkte ich, dass das Publikum gar nicht mich verfolgte, sondern etwas weiter vorn anstarrte. Irgendwas in der Tabac-Kurve war interessanter als ich. Da dachte ich an das Foto und bremste so hart ich konnte." Die blitzartige Erinnerung an ein ähnliches Szenario sorgte also für eine Irritation und der lebensrettenden Konsequenz daraus. Innerhalb von weniger als 100 Millisekunden kann unsere Intuition solche Schlüsse ziehen und entsprechende Maßnahmen daraus ableiten. Das Gefühl „irgendwas stimmt hier nicht“ war das Ergebnis einer Empfindung, die seine Augen weitergeleitet hatten und sein Unbewusstes assoziativ verknüpft hatte3 – ohne den bewussten Verstand davor um seine Meinung zu fragen. Ein Glück, denn das hätte viel zu lange gedauert.


Solche unterschwelligen Wahrnehmungen, so genannte subliminalen Reize, haben wir auch als Bergsteiger, und zwar nicht nur in kritischen Situationen. Ohne uns dessen bewusst zu sein, sammeln wir auf jedem x-beliebigen Auf- und Abstieg viele Informationen über Fels- oder Schneebeschaffenheit, die Lage des Geländes, die Wetterbedingungen und auch Außergewöhnliches, das uns in dem Moment aber vielleicht noch nicht tangiert. Wer ein breites Hintergrundwissen mitbringt, nimmt umso mehr Details auf. Einige dringen ins Bewusstsein vor, andere bleiben – vorerst – in der Schublade. Ein Hirnforscher4 schätzte den Anteil der Informationen, die ins Bewusstsein gelangen, auf marginale 0,1 Prozent.


Angenommen, wir kommen nun in eine Situation, die eine relativ rasche und komplexe Entscheidung von uns abverlangt. Das kann die Frage sein, ob ein bestimmter Hang unter den vorherrschenden Verhältnissen sicher befahrbar ist, aber auch die Überlegung, wo eine Wand ideal zu durchsteigen ist oder an welche Stelle man sein Eisgerät am besten setzt. In allen Fällen wird ein erfahrener und umsichtiger Alpinist seine innere Checkliste herunterklappen, die angereichert ist mit Fachwissen und Erfahrung, und sie blitzschnell durchgehen. Aber um eine wirklich systematische Entscheidung treffen zu können, müssten alle einflussnehmenden Faktoren berücksichtigt werden. Und wer sagt, dass wir diese überhaupt benennen5, geschweige denn richtig gewichten können?

Allein bei der Einschätzung des Lawinenrisikos sind das so unglaublich viele Faktoren – Steilheit, Exposition, Höhe, Wetterverlauf, Schneedeckenaufbau, Variabilität usw. –, dass selbst ein Computer keine exakten Berechnungen anstellen könnte, weil eben nie alle Variablen restlos bekannt sind. Dazu müsste unter anderem an vielen Stellen im Hang eine Schneedeckenuntersuchung durchgeführt werden. Und dann stellt sich noch die Frage der Gewichtung: Ist bei Gefahrenstufe 3 der zu berücksichtigende Steilheitsbereich („ganzer Hang“) bei einem nur kammnahen Triebschneeproblem tatsächlich derselbe wie bei einem überall akuten Altschneeproblem? Eine jede „Berechnung“ vermittelt also trügerische Sicherheit und darf nur als Richtlinie verstanden werden in Kombination mit dem wertvollsten Entscheidungswerkzeug6, das wir besitzen: dem „Bauchgefühl“.


Auch Wissenschaftler sind sich nach etlichen Studien einig: Bei komplexen und unübersichtlichen Entscheidungen ist die Intuition dem analytisch-logischen Vorgehen überlegen.7 Das ausführliche Abwägen von Pro- und Contra-Argumenten, die uns unser bewusste Verstand zufüttert, ist also etwas für die Planungsphase, für (zeit-)unkritische Situationen oder für „hinterher“. Die so genannte Urteilsheuristik, ein unbewusster, automatischer und sehr schneller Denkprozess, ist dem diskursiven Denken vorzuziehen, wenn es eilig oder kompliziert wird. Manager höherer Ebenen, Piloten und Polizisten werden daraufhin geschult – Entscheidungen unter Bedingungen unvollständiger Information zu treffen, die eigentlich eine Nummer zu groß sind8. Warum sollten nicht auch wir Bergsteiger davon profitieren? Das Thema taucht bislang noch in keiner Ausbildung auf; angesichts der mangelnden Konkretion und der ungeklärten Frage der Relevanz ist eine gewisse Skepsis durchaus verständlich.


Liegt es vielleicht daran, dass wir Bergsteiger immer noch zu technik-, zu faktenverliebt sind, um uns der Intuition zuzuwenden? Es lohnt sich ein Blick auf die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse, die uns in Sachen Entscheidungsfindung vielleicht ein Stück voranbringen können. So verursacht zum Beispiel die häufige Verwendung eines GPS nachweislich eine Degeneration des Hippocampus, da die so genannten Gitterzellen, die dafür verwendet werden, eine Raumvorstellung in unserem Hirn abzuspeichern, nur mehr wenig beansprucht werden.9 Es gibt sogar die Theorie, dass eine zu große Ansammlung an Wissen und damit einhergehend eine zu starke Versprachlichung die Intuition limitiert. Zu viele Fakten lenken ab von ungewöhnlichen Lösungswegen, wir „bleiben im Kopf stecken“. Das erklärt auch, warum Kinder oft die viel intuitiveren und fantasievolleren Ideen haben. Ihre Wahrnehmung ist noch nicht auf ein bestimmtes Raster eingefahren, sondern kann viel leichter noch ungewöhnliche Wege beschreiten. Wir Erwachsenen müssen uns das oft erst wieder antrainieren.


Was heißt das jetzt konkret? Alle Methoden, sämtliche Entscheidungshilfen und Lehrmeinungen über Bord werfen und nur auf seinen Bauch hören? Nein, auf keinen Fall. Gerade wer seine Intuition nutzen möchte, sollte das verfügbare Wissen rund um eine bestimmte Situation am Berg intus haben, denn wie schon Louis Pasteur sagte: „Der Zufall10 trifft nur einen vorbereiteten Geist.“ Die Ansammlung von möglichst vielseitigem Wissen ist die ideale Vorbereitung dafür. Aber dann heißt das große Zauberwort: loslassen. Nur damit kann die Intuition im richtigen Augenblick „zünden“. Sie ist am Berg nur selten die Eingebung von außen, sondern vielmehr ein blitzschnelles Auswählen der richtigen Lösung aus einem Überangebot an Möglichkeiten.


Der Schlüssel liegt in der richtigen Verwendung. Ein gutes Bauchgefühl bildet nur aus, wer über einen großen Erfahrungsschatz und ausreichend Wissen verfügt. Angewandt werden sollte es dort, wo Eile geboten bzw. die Faktenlage zu groß, zu unübersichtlich oder nicht vollständig greifbar ist. Und dann erfordert es natürlich auch noch ein wenig Übung, seiner „inneren Stimme“ zu vertrauen, wenn sich im Bewusstsein rationale Gegenargumente auftürmen („Das muss aber hier langgehen, weil ...“, „Der Wetterbericht war wirklich eindeutig ...“ etc.) Weiters eine Portion Reflexionsvermögen und Ehrlichkeit sich selbst gegenüber. Denn emotionale Zustände – ob Hunger, Gipfeleuphorie oder Liebeskummer – spielen, wie wir wissen, auch am Berg eine Rolle. Da ist es manchmal nicht so leicht, das eine vom anderen zu unterscheiden. Wer seiner Intuition eine Chance geben möchte, sollte deshalb gleich mit dem Üben anfangen.


Als Erstes mit dem Schulen seiner Wahrnehmung. Denn um an die Intuition zu gelangen, muss man dieses implizite Wissen ja vom Un- bzw. Vorbewussten11 irgendwie ins Bewusstsein befördern. Gerade im Alltag läuft aber vieles unbewusst, also automatisch ab, wir sind Opfer unserer eigenen Routine – und die ist der Feind aller Intuition. Da ist es schon mal hilfreich, diese zu durchbrechen. Sprich, die üblichen Wege zur Arbeit, zum Supermarkt usw. zu verändern und sich möglichst vor jeder Routinehandlung darüber klar zu werden. Dabei kann man sich übungshalber die folgenden Fragen stellen: Woher kommen die Motive für das, was ich gerade tue? Sind es intrinsische Antriebe oder von außen auferlegte? Treibt mich eine Notwendigkeit an, eine Lust oder eine Angst? Oder ganz allgemein: Will ich das, was ich gerade tue, wirklich machen? Wer rasch Antworten auf solche Fragen findet, schafft es auch, das „Bauchgefühl“ aus der Vielzahl anderer Beeinflussungen herauszufiltern. Und das ist die notwendige Voraussetzung, will man seine Intuition richtig nutzen.


Das Gleiche lässt sich am Berg durchexerzieren: Warum habe ich diesen Gipfel/diese Tour gewählt? Welche Motive spielten hierfür eine Rolle? Begleiten mich Ängste/Befürchtungen oder Erwartungen? Um den Weg für wirklich neue Gedanken frei zu machen und nicht immer im gleichen Denk-Rädchen zu bleiben, empfehlen die meisten Intuitions-Experten Entspannungsmethoden und Meditation. Nicht jedermanns Sache, aber es gibt auch Alternativen.

Der Psychiater Michael Winterhoff rät zum Beispiel zu einem mehrstündigen Waldspaziergang – ohne Handy, Freund oder Hund. Und ohne zu joggen. Die Herangehensweise klingt banal, hat aber überraschende Effekte. Genauso wie dauerhafter Stress die Hirnstruktur verändert, werden bereits nach einem Monat Meditation oder Entspannung neue neuronale Kreisläufe gebildet, die das Gehirn feinfühliger für subtilere Erfahrungsbereiche machen. Genau das, was wir am Berg in entscheidenden Situationen brauchen.


1Tor Nørretranders: „Spüre die Welt. Die Wissenschaft des Bewusstseins“

2Es handelt sich hier um Formel-1-Rennfahrer Juan Manuel Fangio, der beim Grand Prix von Monaco 1950 einem Unfall um Haaresbreite entging.

3Der Neurologe Rüdiger Ilg hat in seiner Dissertation analysiert, wo diese „unbewusste Intelligenz“ ihren Sitz im Gehirn hat. Die im Kernspin nachgewiesenen Areale sind u.a. zuständig für eine rasend schnelle und hochautomatisierte assoziative Verknüpfung.

4Gerhard Roth in einem persönlichen Gespräch mit Bas Kast („Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft“)

5Zum einen, weil es einige Restvariablen geben mag, die allen Sicherheitsexperten bisher entgangen sind. Zum anderen, weil unser Gehirn viele Bereiche besitzt, die der Sprache nicht zugänglich sind, in dem aber nützliche Informationen gespeichert werden.

6Eine schnelle Reaktion auf bestimmte Reize stellt einen evolutionären Vorteil dar.

7u.a. Michael Hübler: Therapeutische Prozesse im Kontext der Gehirnforschung, Gerd Gigerenzer: Bauchentscheidungen: Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition, Florian Artinger, Daniel Kahnemann, Prof. Dr. Stephan A. Jansen, Albert Einstein (!) uvm.

8Meist mittels Simulation von Extrem-Situationen. Dies dürfte beim Bergsteigen deutlich schwerer umzusetzen sein.

9Edvard Moser und Véronique Bohbot

10Mit „Zufall“ meinte er „Geistesblitz“.

11Matthias Gruber: Emergenz des Bewusstseins