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Wiens traumatisierte Eintracht

In Republik, 5.11.2020


"Es ist mein allererster Anschlag", sagt der Pizza­bäcker, während er einen schlabbrigen Peperone aus dem Glas fischt. Dann dreht er sich zu mir um: "Und ich komme aus Pakistan!" Er lächelt traurig über die Pointe. Er hofft, auch mir ein schiefes Lächeln abzuringen. Es gelingt.

Wir sind allein in der leeren Pizzeria. Im Hinter­grund läuft Ariana Grande aus dem Radio. Es ist der erste Abend des zweiten Corona-Lockdowns. Das bedeutet: keine Gäste, nur Take-away und der Typ vom Liefer­service, der vor der Tür wartet. Ich schaue auf die Wanduhr hinter der Theke. Es ist 8 Uhr.

24 Stunden sind nun vergangen seit seinem ersten Anschlag.

Unserem ersten Anschlag.

"Ereignisse, die wir von woanders kennen. Jetzt sind sie hier passiert, mitten in Wien." So beginnen die Fernseh­sprecher mittler­weile ihre Anmoderation, bevor sie den Anschlag, den Abend des 2. November, zum wiederholten Mal Revue passieren lassen. Gegen 8 Uhr am Abend hat ein junger Mann in der Wiener Innenstadt, unmittelbar beim Stadt­tempel, der Synagoge, 4 Menschen ermordet und 23 verletzt, bevor er selbst von Polizei­beamten getötet wurde.

Gegen Mitternacht traut sich der öffentlich-rechtliche Rundfunk ORF zum ersten Mal, Vergleiche zu den Terror­anschlägen von Paris 2015 zu ziehen, als islamistische Attentäter 89 Menschen in der Bataclan-Konzert­halle töteten. Und spätestens am frühen Morgen sprechen sie es alle offen aus: Auch das war ein islamistischer Anschlag, ausgeübt von einem IS-Sympathisanten.

Ereignisse, die wir von woanders kennen.

Ein kleiner Teil von mir hat immer gehofft, dass das so bleibt. Dieser Teil hat auf die österreichische Gemütlichkeit vertraut. Auf diese wunderbare Eigenheit, die als folkloristische Ausrede für jede Ineffizienz, Inkompetenz und Faulheit hergehalten hat. Sie war für mich der Garant, dass selbst Fanatikern und Wahnsinnigen der Zug zum Tor fehlt. Dass auch sie lieber eine rauchen gehen, bevor sie was anpacken; sich lieber noch ein "Flucht­achterl", ein Glas Wein genehmigen, statt fleissig am Sprengstoff­gürtel zu basteln; dass auch sie sich von kollektiver Wurschtigkeit anstecken lassen.

Dem anderen Teil war bewusst, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handelt, bis sich auch Wien in die Liste der Metropolen mit den traurigen Hashtags einreiht (obgleich wir mit unserem #schleichdiduoaschloch ganz neue Standards der digitalen Anti-Terror-Trauer­rhetorik setzen, so viel Patriotismus muss sein).

Dieser Teil hatte immer Angst, weniger vor einem Attentat selbst als vor dem grossen Danach. Denn in einer polarisierten Gesellschaft, wie Österreich eine ist, sind das "Wir" und das "Ihr" aus dem täglichen Diskurs nicht wegzudenken.

Dieses "Wir" trauert um die Opfer. Es fürchtete sich in der Nacht, dass noch weitere Attentäter unterwegs gewesen sind, wie die Polizei angenommen hatte. Doch es fürchtet sich um noch viel mehr.

Dieses "Wir" weiss, dass es einen Unter­schied macht, ob der Attentäter Franz oder Mohammed heisst, ob der Anschlag einen rechtsextremen oder einen islamistischen Hinter­grund hat, ob er ein "autochthoner" oder ein vermeintlich "importierter" ist. Als der Terrorist Franz Fuchs in den 1990er-Jahren Brief­bomben an Politiker, Journalistinnen mit Migrations­hintergrund und Persönlichkeiten der Roma- und der Sinti-Community schickte, hat niemand begonnen, Männer mit hässlichen Schnauzern auf der Strasse anzupöbeln.

Jetzt, nach der ersten Nacht, erzählen Musliminnen in den sozialen Netzwerken von Beschimpfungen auf der Strasse, von Müttern, die ihre Kinder in Schutz nehmen, wenn sie eine Frau mit Hijab sehen. Auf Instagram raten sie einander, in den nächsten Tagen lieber den Kapuzen­pulli zu tragen anstelle des Kopftuchs. Oder besser gleich zu Hause zu bleiben.

"Nicht in die IS-Falle tappen", appellierte der ORF-Nahost­korrespondent Karim El-Gawhary auf Twitter, nachdem sich heraus­gestellt hatte, dass es sich beim Wien-Attentäter um einen IS-Sympathisanten handelte. El-Gawhary zitiert aus einem Manifest der Terror­miliz, in dem steht, dass es eines der Ziele derartiger Anschläge sei, Muslime im Westen auszugrenzen und so militanten Islamisten leichter in die Arme zu treiben. " Ich bitte euch noch einmal inständig: Tappt nicht in diese IS-Falle."

Und bisher hält sich die österreichische Politik an diesen Appell. Es ist überraschend, wie inklusiv plötzlich die Verfechter einer rechts­konservativen ÖVP auftreten, deren Wahlkämpfe in jüngster Vergangenheit auf Spaltung gesetzt haben, und, siehe da, ihr populistisches Tremolo unter Kontrolle bringen können: "Das ist keine Auseinander­setzung zwischen Christen und Muslimen oder zwischen Österreichern und Migranten. Dies ist ein Kampf zwischen den vielen Menschen, die an den Frieden glauben, und jenen wenigen, die sich den Krieg wünschen", adressierte Bundeskanzler Sebastian Kurz an die Nation.

"Kein Terror wird uns je spalten. Es ist mir wichtig zu erwähnen, dass die zwei Österreicher, die einen verletzten Polizisten retteten, Migrations­hintergrund haben", liess Innen­minister Karl Nehammer (ÖVP) wissen.

"Geht doch", möchte man ihnen zujubeln. Es sind ungewohnte Töne. Wohltuende.

Auch im medialen Diskurs. Plötzlich steht Ethik hoch im Kurs. Nachdem oe24.tv, der Sender des Boulevard­blatts "Österreich", Videos der Terror­nacht gepostet hatte (in denen unter anderem zu sehen ist, wie der Angreifer auf Personen schiesst), beschlossen mehrere Supermarkt­ketten, ihre Werbeetats für den Boulevard­giganten vorläufig zu streichen. Offenbar gibt es doch eine rote Linie, die auch für den Boulevard gilt. Mit finanziellen Folgen. Unter Umständen auch in Zukunft, wenn die Höhe der staatlichen Medien­förderung nicht länger an die Auflage, sondern an journalistische Standards gekoppelt ist. Doch das sind Debatten für die Zukunft.

Derzeit herrscht in Wien traumatisierte Eintracht, ein tröstendes Reminis­zieren - an den Zusammen­halt der Nacht vom 2. November, als Musiker­innen im Konzerthaus so lange spielten, um ihr Publikum bei Laune und vor allem in Sicherheit zu halten; wie Taxifahrer stundenlang gratis Gäste nach Hause chauffierten; wie Hotels gestrandete Passanten umsonst in den Zimmern übernachten liessen, weil draussen die Polizei noch nach etwaigen Tätern fahndete.

Trotz Lockdown haben sich auch hie und da in Wien einige am Tag danach zum gemeinsamen Trauern versammelt. Vor dem Stephansdom etwa, Wiens Wahrzeichen in der Innenstadt, steht eine Gruppe mit Blumen und Kerzen. Es sind allesamt Männer und Frauen, die 2015 aus Syrien nach Österreich geflohen sind. In ihrer Mitte steht ein grosser, dicker Mann mit Pelzmütze. Laut singt er "Wien, Wien, nur du allein sollst stets die Stadt meiner Träume sein", das berühmte Wienerlied des Komponisten Rudolf Sieczyński.

Wien ist in diesen ersten 24 Stunden zusammen­gerückt. Es bleibt zu hoffen, dass diese Eintracht noch ein wenig anhält, bis die Ersten beginnen, auch aus diesem Terror­anschlag Kapital zu schlagen.

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