Diesen Abend leistet sich Dmitri einen Luxus. Er nimmt sich frei von der Diktatur. Einen Abend lang wird der Anwalt nicht über seine Klienten und Kollegen sprechen. Über die Verschleppten, die Verprügelten und die Eingesperrten. Er wird Ausländern nicht seine Heimat erklären. Und ihre empathischen Blicke ertragen. Für einen Abend will der 30-Jährige nur mit seinen Freunden ein Bier trinken und so tun, als ob alles normal wäre. "Es ist doch alles normal, sieh dich um", sagt er und zeigt auf die pastellfarbenen kleinen Häuser der Minsker Altstadt.
Pragmatische Apathie Schön ist es. Verwinkelte Straßen mit Bars und Cafés voller junger Menschen, die ihren Feierabend bei einem Bier und einer Portion Kartoffelpuffer - dem Nationalgericht - ausklingen lassen. "Wir wissen selbst, dass wir in einer Diktatur leben, wir müssen nicht permanent darauf aufmerksam gemacht werden", sagt Dmitri gereizt und streicht sich über die Bartstoppeln. Wieder hat er die ganze Nacht gearbeitet. Wieder hatte er keine Zeit, sich zu rasieren. "Freiheit bedeutet hier, sich auch manchmal aus dem Ganzen ausklinken zu können." Er lächelt müde. Nur ein paar Stunden will es Dmitri seinen Landsleuten gleich tun - und einer bestimmten Lebenshaltung frönen: Abyjakavasc. Es ist das erste Wort, das der Fremde in der weißrussischen Sprache, die kaum einer in dem Land spricht, lernt. Immer wieder ist es die Antwort auf jede Frage. Warum geht ihr nicht auf die Straße? Warum wehrt ihr euch nicht? Warum organisiert ihr euch nicht? Abyjakavasc. Abyjakavasc. Abyjakavasc. Ein weißrussischer Wesenszug soll es sein. Die einen übersetzen es mit "Toleranz". Die anderen mit "Gleichgültigkeit". Doch alle sind sich einig: Es ist die Lebensmaxime der Weißrussen. Ein apathisches "Que sera, sera", das ihnen über Jahrzehnte das Überleben sicherte. Erst gegen ausländische Invasoren. Und heute gegen die eigene Regierung.
Weißrussland. "Die letzte Diktatur Europas" nannte es 2005 die einstige US-Außenministerin Condoleezza Rice. Seither wird das Land mit seinen knapp zehn Millionen Einwohnern, das zwischen dem Baltikum, Polen, der Ukraine und Russland liegt, nur mehr so umschrieben. Im Juli feiert Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko sein 20-jähriges Jubiläum. Es ist seine vierte Amtszeit. Seinen Maidan hat er schon zweimal überlebt. Einmal 2006, einmal 2010. Mehr als die Ächtung der internationalen Community hatte sie für ihn nicht zur Folge. Einen Hort der Stabilität will der Präsident heute präsentieren. Er will beweisen, dass er - "Batka", Väterchen, wie Lukaschenko genannt werden soll - alles unter Kontrolle hat. Seit dem Konflikt in der Ukraine ist ihm das Image des starken Mannes wichtiger denn je.
Lenin in Adidas Wer durch das Minsker Zentrum spaziert, könnte ihm fast glauben. Saubere Straßen, eine moderne U-Bahn, gut besuchte Cafés, McDonalds-Filialen, in denen Kinder ihre Geburtstage feiern und volle Kaufhäuser, in denen auch westliche Marken wie Mango, Bodyshop und Adidas längst Einzug gehalten haben. Keiner sitzt auf den akkurat gemähten Wiesenflächen. Keiner geht bei Rot über die Straße. Alles hat seine Ordnung. Der Weißrusse hält sich an die Vorschriften. Freundlich werden Fremde empfangen. Man nimmt sie gar an der Hand und setzt sie persönlich an der gewünschten Adresse ab. Wenn es sein muss gleich im Rudel, weil Ansprechpartner eins, zwei und drei kein Wort Englisch sprechen und erst Ansprechpartner Nummer vier die Gruppe mit ein paar Brocken "left" und "right" in die richtige Richtung lotst.
Als Kulisse dient Sowjetkitsch einer vermeintlich vergangenen Ära. Da eine einsame Lenin-Statue vor dem Regierungssitz am Platz der Unabhängigkeit, dort Stalins Zuckerbäckerstilbauten, welche die elf Kilometer lange Lebensader der Stadt - den Boulevard der Unabhängigkeit - säumen. Im Mai fand in Minsk die Eishockey-WM statt. Herausgeputzt hat man sich dafür. Man wollte zeigen, dass Weißrussland nicht das düstere Nordkorea Europas ist, das immer heraufbeschworen wird. Noch Wochen später sind die übergroßen Pappfiguren Eishockey-schwingender Büffel zu sehen. Der Bison ist Weißrusslands Nationaltier - und Eishockey die Lieblingssportart des Präsidenten.
Väterchens Angst Seit den Schüssen auf dem Kiewer Maidan ist die Zustimmung für Lukaschenko in der Bevölkerung gestiegen. Eine Rolle spielt dabei auch, dass russische Medien in Weißrussland prominent vertreten sind und die russische Sicht auf die Ukraine verbreiten. Doch die Situation in der Ukraine macht Lukaschenko nervös. Sehr nervös. Was, wenn er seinen Staat auch bald los ist, so wie sein Nachbar die Krim?
"Er ist aufgewacht", sagt Yury Khashchavatski, "er beginnt zu verstehen, was Russland wirklich ist." Khashchavetski ist Dokumentarfilmer. Der 67-Jährige gilt als Weißrusslands Antwort auf Michael Moore. Auch wenn ihm der Vergleich nicht gefällt. Entspannt empfängt er seinen Besucher im Pyjama in seiner geräumigen Wohnung gegenüber dem Minsker Hauptbahnhof. Was für Michael Moore jahrelang George W.Bush war, ist für Yury Khashchavatski Alexander Lukaschenko. Spätestens seit seiner Satire "An Ordinary President" (1996) ist er sich des Zorns des Volkstribuns sicher: Als korrupten Tölpel stellt Khashchavatski den Präsidenten dar. Der Film hatte Konsequenzen. Unmittelbar nach seiner Premiere im Ausland schlugen fremde Männer den Regisseur krankenhausreif. Das tat seiner Popularität keinen Abbruch. Im Gegenteil. Seine Dokumentation "Kalinosvki Square" über die Demonstration nach den Wahlen 2006 wurde auch international prämiert.