Wien. Wolfgang Kieslich gefallen die neuen Sozialdemokraten in Simmering. Sie haben sich verändert. Sie sind richtig zugänglich geworden. Fast schon zutraulich. "Heute kommen sie auf uns zu, früher mussten wir immer zu ihnen gehen", erzählt der ÖVP-Bezirksrat. Seine Schadenfreude ist kaum zu überhören.
70 Jahre lang war Simmering rotes Hoheitsgebiet. Und das mit absoluter Mehrheit. Wer etwas im 11. Bezirk bewegen wollte, kam an der SPÖ nicht vorbei. Sie waren die Macher. Seit der Wien-Wahl am 11. Oktober vergangenen Jahres ist das Geschichte. Mit Paul Stadler stellt die FPÖ in Simmering den ersten freiheitlichen Bezirksvorsteher Wiens. Es war ein knappes Rennen. 401 Stimmen. So groß war der Vorsprung der Freiheitlichen gegenüber der SPÖ. 401, die Zahl hat sich bei jedem Simmeringer Sozialdemokraten eingebrannt. 401 Stimmen haben sie in die Opposition manövriert. 401 Stimmen haben sie zu Bittstellern in ihrer eigenen Hochburg degradiert. 401 Stimmen haben ihren Bezirk zur politischen Jahrmarktattraktion von ganz Wien gemacht.
Woche für Woche pilgern Journalisten in den Südosten Wiens, um sich dieses neue politische Biotop anzusehen. Aus der ganzen Welt reisen sie an, lassen sich von Paul Stadler immer wieder dieselbe Safari in sein "Little Istanbul" auf der Simmeringer Hauptstraße geben, nur um zu sehen, ob im 11. Bezirk nun der blaue Testlauf beginnt, für das, was in ganz in Wien oder gar Österreich vielleicht einmal Realität werden könnte.
"Wir haben diese Wahl nicht geschafft", sagt Peter Kriz. Das Wort "verloren" kommt dem SPÖ-Bezirksrat nicht über die Lippen. Zu lange war man im Bezirk an der Macht, als das man sich nun einer defätistischen Rhetorik bedient. Niederlage hin oder her. Es gilt Haltung zu bewahren. Vor dem Gegner. Dem Wähler. Vielleicht auch vor dem eigenen Ego. Keiner soll sehen, wie verletzt der Stolz tatsächlich ist. Peter Kriz beißt die Zähne zusammen. Er darf nicht gekränkt sein, wie ein Kind, dem sie das Spielzeug weggenommen haben. Er darf auch nicht schmollen wie seine Kollegen, die sich ihrem Trotz und ihrer Trauer hingeben. Er muss stark sein für seine Leute. Schließlich ist der 67-Jährige der Einzige in der Simmeringer SPÖ, der noch an den Hebeln der Bezirksmacht sitzt. "Ich bin der Einzige im Amtshaus, der die Sozialdemokraten vertritt", sagt er ernst. Der gelernte Kfz-Mechaniker ist Paul Stadlers zweiter Stellvertreter. Laut Stadtverfassung stellt der Wahlsieger den Bezirksvorsteher und den ersten Stellvertreter, die zweistärkste Partei den zweiten Stellvertreter.
Geschrumpfte Sozialdemokratie
Höflich sei das Verhältnis zwischen Paul Stadler und Peter Kriz. Von Freundschaft aber weit entfernt, darauf legt Kriz Wert. Er bewahrt seinen Abstand zu dem FPÖ-Politiker, den man doch so gerne seine väterliche Umgänglichkeit nachsagt. Jeden Tag kommt Peter Kriz in das Amtshaus, geht hinauf in den ersten Stock, vorbei an der neuen Tafel, wo die Bilder der 25 SPÖ- Mandatare unter jenen der 26 FPÖ-Mandatare hängen. "Ich stelle mir das schon wieder umgekehrt vor", brummt er. Im Raum 130 ist sein Büro. Hier finden die Genossen vor jeder Bezirksvertretungssitzung Zuflucht. Hier können sie ihre gekränkten Seelen baumeln lassen. 25 Quadratmeter. Auf diese Größe ist die Sozialdemokratie im Amtshaus am Enkplatz zusammengeschrumpft. Seit 26 Jahren ist Kriz SPÖ-Bezirksrat, fünf Jahre davon war er der erste Stellvertreter der Bezirksvorsteherin, anfangs von Renate Angerer, später von Eva-Maria Hatzl. Als erster Stellvertreter hatte Kriz einen Generalsschlüssel für das gesamte Amtshaus. Er konnte sich aussuchen, in welchem Zimmer er Besprechungen abhielt, durfte im Sekretariat so viel kopieren, wie er wollte, hatte Einblicke, welche Anträge gerade in welchem Magistrat bearbeitet wurden, und bekam jederzeit einen Termin mit der damaligen Bezirksvorsteherin. Heute steht ihm nur ein leeres Büro zu. Er muss fragen, wenn er zusätzliche Räumlichkeiten benutzen will, die Mitarbeiter der Büroleitung darum bitten, ihm ein paar Kopien zu machen, und um einen Termin ansuchen, wenn er mit dem Herrn Bezirksvorsteher sprechen möchte.
"Es ist jetzt alles ein bisschen anders", sagt Kriz. Er muss sich an die neue Situation gewöhnen. Auch daran, dass er von Informationen abgeschnitten ist. Über zwei Jahrzehnte ist er in das Sekretariat der Bezirksvorstehung marschiert und hat sich von den Beamten der Büroleitung briefen lassen. Als zweiter Bezirksvorsteherstellvertreter steht ihm das nicht mehr zu. Er muss bei seinen Parteifreunden auf höheren Ebenen anklopfen, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. Ins Sekretariat geht er nur mehr, um sich die Post zu holen. Er geht kurz hinein, begrüßt die Anwesenden, holt seine Briefe und verschwindet wieder in sein kleines Büro. Er weiß: Er hat in diesen Zimmern nichts mehr zu suchen.
Workshops für die blauen Stellvertreter
Paul Stadler kennt das Gefühl. Vermutlich besser als jeder andere in dem Haus, saß er doch 19 Jahre dort, wo Kriz heute ist. 19 Jahre lang war er als blauer Juniorpartner von jeglicher Information abgeschnitten. Wurde nie eingeladen zu Veranstaltungen, durfte nie die Bezirksvorsteherin bei Anlässen vertreten, war nie eingeweiht in anstehende Projekte. Heute hat sich das Blatt gewendet. Paul Stadler sitzt im Raum 120. Es ist das große Zimmer am Ende des Flures. Er genießt es sichtlich. Rachegelüste hegt er keine. Das sagt er zumindest. Schließlich schickt er auch Bezirksräte anderer Fraktionen zu Terminen und lässt sich vertreten. Er sei nicht so kleinkariert wie die Genossen. Er möchte sich nicht auf ihr Niveau begeben, wie er sagt. Doch hat er sich schon den Sprech seiner roten Vorgänger angeeignet: Zu wichtigen Terminen schickt der Bezirksvorsteher die Person seines Vertrauens.