Manfred Frewein ist ein Talentscout der besonderen Art. Jedes Jahr macht sich der 45-jährige Steirer mit der blonden Mähne auf die Suche nach 15 Burschen und Mädchen. Seine Wünsche sind bescheiden: Lesen, schreiben und rechnen sollen sie können. Und jedes Jahr wird er enttäuscht.
Seit 2005 ist Frewein Ausbildungsleiter der Maschinenfabrik Liezen (MFL) im Ennstal. 800 Mitarbeiter hat der Industriebetrieb und lechzt nach Facharbeitern. Jährlich bewerben sich 80 Jugendliche um eine Lehrstelle und wollen zum Maschinenbauer, Elektrotechniker oder zur Industriekauffrau ausgebildet werden. Und jedes Jahr ist es das gleiche Trauerspiel. Zwei Drittel versagen beim Aufnahmetest. Sie scheitern am Einmaleins und an simplen Zahlenfolgen. "Das Beste wäre, wenn wir sie gleich von der Volksschule weg kriegen könnten", sagt Frewein, "dann bewältigen sie noch die Rechenaufgaben, die wir benötigen."
Österreichs Betriebe haben ein Problem mit ihrem Nachwuchs. Was Bildungsforscher Jahr für Jahr kopfschüttelnd bei Pisa und anderen Wissenstests feststellen, erleben Frewein und seine Kollegen im eigenen Betrieb: Viele Jugendliche können nicht lesen, schreiben und rechnen. Und jeder Dritte scheitert bei der Lehrabschlussprüfung, wie jüngst bekannt wurde.
Die Wirtschaft macht die Lehrer dafür verantwortlich, die Lehrer die Eltern und die Eltern das Internet. Die Konsequenz: Dem Land fehlt es an knapp 30.000 Facharbeitern. Nun greifen immer mehr Betriebe zur Selbsthilfe. Was Staat und Eltern verabsäumt haben, holen sie selbst nach. "Wir wollen nicht mehr jammern", sagt Frewein.
Es ist kurz vor sechs Uhr morgens. Als die ersten Lehrlinge eintreffen, ist es noch stockfinster an dem Industriestandort Liezen. Müde schlurfen die Jugendlichen in dicken Daunenjacken und Jogginghosen über das 22 Hektar große Areal der MFL zur Lehrwerkstatt. Am Eingang halten sie ihre Brieftaschen schlaftrunken gegen ein Display, das sie willkommen heißt. Stechkarten waren gestern, heute checkt der Lehrling mit der Chipkarte ein. Jeden Tag erhalten sie vormittags vier Stunden Extraunterricht: Mathematik, Technisches Zeichnen, Fachkunde und Englisch. Erst danach geht es zum Fräsen, Drehen und Schweißen.
Es interessierte keinen Lehrer, wenn seine Schüler betrunken erschienenSlavin und Aldin sitzen still nebeneinander. Mit Zirkel und Geodreieck zeichnen die beiden 15-jährigen Lehrlinge Werkzeugmodelle. Beide waren davor in einer polytechnischen Schule, so wie 36 Prozent aller Lehrlingsbewerber in Österreich. Dort war den beiden Burschen alles gleichgültig. Und den Lehrern auch. Es spielte keine Rolle, ob sie krank waren, den Unterricht schwänzten oder betrunken in der Klasse erschienen sind. Viele Burschen und Mädchen sitzen dort nur ihr letztes Schulpflichtjahr ab, an die Zukunft denken die wenigsten. "Eigentlich war ich ganz gut in Mathe in der Hauptschule. Im Poly war ich dann aber eine Leistungsgruppe schlechter", erzählt Slavin geknickt. Das Lernen freute ihn nicht. Und schließlich haben alle anderen auch nur dahingedämmert. Gruppendruck eben. Bewundernd schaut er seinen Kollegen Aldin an. "Er war gut in Mathe. Er hätte es sicher auch in die HTL geschafft", sagt er leise und vertieft sich in seine Skizze. Er weiß um die unausgesprochene Hierarchie im österreichischen Bildungssystem. Die Guten besuchen weiterhin eine Schule, die Oberstufe eines Gymnasiums, die Handelsakademie oder eben eine HTL. Der Rest bleibt in der polytechnischen Schule hängen.
Ausbildungsleiter Frewein lässt das nicht gelten. Wer fleißig ist, soll eine Chance bekommen. Im ersten Monat der Probezeit wird in einem Einstiegstest die Leistung der Lehrlinge genau erfasst. Slavin hat dabei in Mathematik schlecht abgeschnitten. Für Lehrlinge wie ihn gibt es zusätzlich zum Mathematiknachhilfeunterricht in der Fabrik ein weiteres Angebot. "Die Nachhilfe von der Nachhilfe", nennt es Frewein ironisch. Vor zwei Jahren hat sich die Maschinenfabrik mit vier weiteren Betrieben aus der Region zum Bildungsverbund Industrielehrlinge Liezen zusammengeschlossen. Sie nehmen ihre Problemkinder noch einmal an die Hand. Von September bis Dezember organisieren sie einen speziellen Mathematikunterricht. Jeden Freitag chauffiert Frewein vier seiner Schützlinge zur Extranachhilfe in einen der fünf Betriebe. Vier Stunden lang büffeln sie dann dort Textaufgaben durch. So lange bis alles sitzt.