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Der letzte deutsche Fußballtote

Das Jahr 1990 in Ostberlin gilt im Rückblick als Jahr der Anarchie. Die DDR löste sich langsam auf, ihre Organe auch, und weil Westbeamte noch nicht zum Eingreifen befugt waren, gab es einen riesigen Freiraum, vor allem für Jugendliche. In den Bezirken Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg besetzten Autonome mehr als 100 Häuser. Ganze Straßenzüge wie die Rigaerstraße, die Dunkerstraße oder Mainzerstraße waren in ihren Händen. Die rechtsfreien Räume schufen aber nicht nur, sie zerstörten auch.


Hooligans der ostdeutschen Fußballvereine zogen teils marodierend durch die Straßen. Der Neonaziaussteiger Ingo Hasselbach berichtet in seinem Buch Die Abrechnung von kompletten Raubzügen, bei denen BFC-Hooligans zum Beispiel in Leipzig Alkohol, Zigaretten, CD-Player und ganze Kühlschranke an sich nahmen. Das passierte häufig. Die Volkspolizei war mit den Hooligans überfordert. In Rostock, in Erfurt, an vielen Orten der DDR waren gewalttätige Hooligans ein Problem. In Leipzig allerdings fanden die Ausschreitungen ihren Höhepunkt.


Die Spiele des FC Berlin, der bis 1990 noch BFC Dynamo hieß, waren alle Sicherheitsspiele. Schuld war der Berliner Anhang, aber nicht nur. Viele der anderen Vereine wollten sich rächen für tatsächliche oder vermeintliche Benachteiligungen durch den ehemaligen Stasi-Club. Von 1979 bis 1988 feierte der BFC zehn DDR-Meisterschaften am Stück - Deutscher Rekord. Manch einer spricht von geschobenen Meistertiteln, zweifelsohne aber hatte der BFC auch die größten Mittel im DDR-Fußball. Zwar gab es auch zwischen Politfunktionären und den jungen Skinheads im Block des BFC Ende der 1980er Jahre Probleme, doch den Ruf des Schummelmeisters, des vom Staat protegierten Vereins wurden auch die Fans nicht los.


Die Schlacht von Leipzig

Am 3. November 1990 stand die Oberligapartie des FC Sachsen Leipzig (vormals BSG Chemie Leipzig) gegen den FC Berlin im Leipziger Stadtteil Leutzsch an. Die Volkspolizei hatte exakt 219 Beamte im Einsatz. Andere sächsische Beamte konnten nicht gerufen werden, weil parallel auch in Karl-Marx-Stadt und Dresden gespielt wurde. Da es keine richtige Landesverwaltung mehr gab, gab es auch kein Amtshilfeersuchen an andere Bundesländer.


Bereits am Hauptbahnhof kam es zu Auseinandersetzungen zwischen Berlinern und der Polizei, 50 Hooligans wurden in Gewahrsam genommen. Später im Stadion versuchten beide Fanlager aufeinander loszugehen. Mit Mühe konnten die Beamten die Gruppen trennen und eine Pufferzone einrichten. Zeitgleich kamen 400 Hooligans am S-Bahnhof Leutzsch an.


Es ist unklar warum, aber die Polizeikräfte bauten eine Kette auf, um den Berlinern den Weg zum Stadion zu verwehren. Die warfen mit Pyrotechnik und Steinen. Die Beamten wussten sich nur durch den Einsatz von Tränengas zu helfen und konnten die Hooligans so zum Bahnhof zurückdrängen. Dort bewaffneten die sich erneut mit Steinen und Eisenstangen und wagten einen weiteren Angriff, um doch noch ins Stadion zu gelangen.


Dann widersprechen sich die Berichte. Die Polizei sagte, sie wurde von mehreren Seiten attackiert. Laut einem Bericht der Fußballwoche von damals gab der Einsatzleiter den Schießbefehl, wobei er anmerkte, dass "jeder weiß, daß zuvor ein Warnschuß abgegeben werden muß. Ein Zielen war unter den Bedingungen gar nicht möglich".

Anders berichten es die Hooligans. Sie veröffentlichen ein Schreiben, in dem heißt es: "Plötzlich schoß die Polizei ohne Vorwarnung mit gezielten Schüssen in Kopfhöhe auf uns. Sie schossen auch, als wir wegliefen und trafen mehrere von uns dabei. (...) Wir fordern Aufklärung in diesem Mordfall!!! Wir wissen auch, daß wir nicht unschuldige Engel sind, deshalb wollen wir kein Mitleid, sondern eine wahrheitsgemäße Berichtserstattung". Andere berichten, dass zwischen Hooligans und Polizeikräften ein Zaun und Fluchtmöglichkeiten gewesen wären. Der Berliner Polizeibeauftragte für Fußballfragen wird mit den Worten zitiert, "daß der Schußwaffengebrauch überflüssig war".

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