Ein schwuler türkischer Referee kämpft gegen Ausgrenzung. Er selbst muss sie in seiner Heimat erleben. In Berlin berichtet der frühere Zweitliga-Schiedsrichter über seine Geschichte.
Von Marcel Stein
Stadtrundfahrt stand so ziemlich als erstes auf dem Plan. Irgendwo verständlich, Halil Ibrahim Dincdag ist schließlich zum ersten Mal außerhalb der Türkei. Also Potsdamer Platz, Brandenburger Tor und so weiter. Aber wichtiger war die Abendgestaltung, da pfiff Dincdag ein Fußball-Freundschaftsspiel zwischen TeBe II und Türkiyemspor III. Es war extra für ihn anberaumt worden. Damit er mal wieder pfeifen kann.
Vor allem aber ist der Schiedsrichter gerade in Deutschland, um von seinem Schicksal zu berichten. Dincdag ist homosexuell, weshalb er in der Türkei nicht mehr alles tun kann, was er tun möchte. Auf Einladung des Lesben- und Schwulenverbandes Berlin-Brandenburg sowie der Klubs Tennis Borussia und Roter Stern Leipzig erzählt er am heutigen Donnerstag in Berlin (Tristeza, Pannierstr. 5, 19 Uhr) und am Sonnabend in Leipzig in Vorträgen über sein Leben.
Vier Jahre sind vergangen, seit sich für den 36-Jährigen alles verändert hat. Von einem Tag auf den anderen. Geoutet hatte er sich schon vorher, er tat es tun, um vom Militärdienst befreit zu werden. Doch als er wieder pfeifen wollte, verlangte der Kreisverband in seinem Heimatort Trabzon nach einer Erklärung für den nicht geleisteten Dienst. "Man hielt mir vor, krank zu sein", erzählt Dincdag. Das wollte er nicht hinnehmen, beschwerte sich beim Türkischen Fußballverband: "Der Beschwerdebrief war am nächsten Tag in den Nachrichten." Sein Leben fand sich schlagartig in der Öffentlichkeit wieder.
Die Familie hielt zu ihmAnfangs war das schwierig, nur zwei, drei Freunde wussten vorher Bescheid. Selbst die Familie erfuhr von seiner Homosexualität aus dem Fernsehen. "Meine Mutter hat viel geweint", sagt Dincdag. Doch die Familie hielt zu ihm. Selbstverständlich ist das nicht in der Türkei, liberale Einstellungen sind selten. "In den 90er-Jahren hätte ich mehr durchmachen müssen", so der Schiri. Aber es gibt immer noch genug Menschen, die Homosexuelle ablehnen. Dincdag bekam Morddrohungen und Aufforderungen, das Land zu verlassen.
Das beeindruckte ihn nicht, doch er verlor seinen Job als Radiomoderator. Als Schiedsrichter durfte er auch nicht mehr auftreten. "Ich bekam psychische Probleme", so der Türke. Mit der Unterstützung von Freunden und Familie konnte er diese jedoch überwinden und wurde zum Kämpfer. Da er zuvor in der zweiten und dritten Liga aktiv war, hatte Dincdag einen gewissen Bekanntheitsgrad. Den nutzte er. "Es war gut, dass alles öffentlich wurde. Die Türkei brauchte jemanden, der bekannt und stark genug ist, sich zur Wehr zu setzen", erzählt der Referee, der jetzt in Istanbul lebt. Er würde alles wieder genauso machen, weil es ihm besser geht. Vorher habe er sich gefühlt, als würde er eine große Last mit sich herumgetragen.
Autoritär auf dem PlatzVon der Debatte um schwule Fußballer in Deutschland hat er gehört, in der Türkei finden solche Diskussionen kaum statt. "Fußball ist da so eine Machosache", sagt er. Trotzdem will er zurück auf den Platz. Angst vor den Reaktionen von Spielern auf dem Spielfeld kennt er nicht. "Ich bin ein sehr autoritärer Schiedsrichter. Auf dem Platz diskutiere ich nicht. Wer mich beschimpft, der sieht Rot", sagt Dincdag. So ein Spiel wie das Istanbuler Derby zwischen Galatasaray und Fenerbahce, bei dem es immer hoch her geht, das würde ihn reizen: "Solche Partien sind für mich die leichtesten Spiele. Da darf man sich von den Fans nicht beeinflussen lassen, da müssen Schiedsrichter stark sein."
Dincdag fühlt sich stark genug, allen Gegenwind auszuhalten. Er will allen Homosexuellen, die selbst eingeschränkt sind in ihrer Freiheit, Mut machen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Auch mit den Vorträgen in Deutschland. "Ich bin überzeugt davon, dass ich diesen Kampf gewinnen und irgendwann wieder als anerkannter Schiedsrichter Spiele in der Türkei leiten kann", sagt Dincdag. Doch er weiß, dass sein Weg noch lang ist.
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