Verena Bentele kommt spät, eingehakt bei einem jungen Mann, der sie zu ihrem Platz führt. Sofort ist sie von einer Menschentraube umringt. Vertreter von Verbänden stecken ihrem Begleiter Visitenkarten zu. Ein Kamerateam wirbelt um sie herum.
Die blinde Exsportlerin ist erst seit wenigen Tagen die neue Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Etwas nervös ist sie noch. Es ist einer ihrer ersten Termine in der Öffentlichkeit. Hin und wieder streckt sie ihre Hand zur Begrüßung in die falsche Richtung aus. Bentele spricht auf einer Gedenkveranstaltung für die Opfer der sogenannten Aktion T4 - der ersten Welle der NS-Vernichtung von Menschen mit körperlicher und geistiger Behinderung. Die Nazis nannten sie "lebensunwert".
Die 31-Jährige ist die Jüngste in dem Amt und die Erste, die selbst eine Behinderung hat. "Sie kann das einfach alles nachempfinden", sagt Lutz Niestrat vom Allgemeinen Deutschen Behindertenverband, selbst sehbehindert. "Sie wird sicher einiges bewegen." Große Erwartungen.
Vorsichtig tritt sie mit dem Assistenten ans Rednerpult, streicht mit dem Finger über die ersten Zeilen des Manuskripts in Blindenschrift. Auf der kleinen Bühne im Foyer der Berliner Philharmonie liegen Kränze, rechts steht ein Bild von Otto Hampel, einem von etwa 300.000 Opfern der grausamen Euthanasie-Politik des "Dritten Reiches". "Es ist mir wichtig, dass wir auf die individuellen Schicksale hinweisen, auf Menschen, die hinter den Zahlen stehen", sagt Bentele.
Einmal verrutscht sie mit dem Finger in der Zeile und muss den Satz noch mal neu beginnen. "Ups", sagt sie einfach und lächelt kurz. Sie müsse noch routinierter werden bei den Reden, sagt Bentele später im Interview. Da fehle ihr schon manchmal der Blick ins Publikum. Natürlich könne man am Gemurmel oder am Applaus auch etwas erkennen. "Aber dieses unmittelbare Feedback in den Gesichtern, das würde ich schon gern sehen."
Sie will die Barrieren im Kopf abbauen
Bentele ist von Geburt an blind. Sie sagt aber, ihre Eltern, die einen Bio-Hof am Bodensee betrieben, hätten ihr früh viel anvertraut, etwa die Pflege der Pferde. "Genau das ist wichtig: Man muss Menschen mit Behinderung einbeziehen, ihnen Verantwortung übertragen. Nur so können sie ihren Platz mitten in der Gesellschaft finden." Bentele hat sich vorgenommen, die "Barrieren im Kopf" abzubauen. "Mir passiert es beinahe täglich, dass mir Menschen Dinge nicht zutrauen, dass sie mich nicht persönlich ansprechen, sondern meinen Begleiter, weil ich ihnen nicht in die Augen schaue."
Dabei hat sie mit 31 Jahren schon mehr erreicht als die meisten anderen. Sie ist bis heute die erfolgreichste deutsche Behindertensportlerin. Im Biathlon und im Langlauf hat sie zwölf Goldmedaillen gewonnen. Allein bei den Paralympischen Winterspielen 2010 in Vancouver räumte sie fünf Mal Gold ab. 2011 beendete sie ihre sportliche Karriere.
"Ausdauer, Energie und Teamfähigkeit helfen mir sicher auch im neuen Job", sagt Bentele. Erste politische Erfahrungen hat sie bereits im bayerischen Wahlkampf gesammelt. 2013 gehörte Bentele dem Team von SPD-Spitzenkandidat Christian Ude als Expertin für die Themen Inklusion und Sport an.
Jetzt steht sie am Gedenkort für die Opfer des NS-Euthanasie-Programms an der Berliner Tiergartenstraße. Dicke Schneeflocken landen auf den Gedenkkränzen am Boden. Bentele hält das Blatt dicht am Körper und fährt mit der Hand über die kleinen Erhebungen der Brailleschrift. Die Rede sitzt, im Schnee scheint sie sich sicher zu fühlen.
Vor ihr hat sich sich eine kleine Schlange gebildet, viele Menschen wollen der Neuen sagen, was sie nun unbedingt angehen muss. Das Fernsehteam will noch einen O-Ton vor den Kränzen. Benteles Hände sind schon rot von der Kälte. "Es geht ja in der Regel um persönliche Anliegen von Menschen mit Behinderung, die aus Sicht der Betroffenen nicht warten können", sagt Bentele.
Ihr Händedruck ist nicht fest, eher passiv, sie wartet ab, was der andere tut. "Stimme und Händedruck sagen mir viel über den Menschen, wie er auf mich zugeht und wie fokussiert er auf unser Gespräch ist. Dafür muss ich gar nicht sehen können."
Ihr Computer liest die Mails vor
In ihrem Büro im Kleisthaus hat sie sich inzwischen eingerichtet. Ihr Computer kann die Mails vorlesen und im Fahrstuhl sind die Stockwerke auch in Blindenschrift markiert. In einem Orientierungstraining hat sie die Räume genau inspiziert. Ein Assistent wird sie an die Orte begleiten, wo sie sich nicht auskennt. Auch das Miteinander mit den Kollegen spiele sich immer mehr ein, sagt sie. "Wenn ich jemanden mal nicht grüße, dann wissen die, dass ich nicht unhöflich bin, sondern sie nicht sehe. Dann sagen sie halt Hallo."
Am Nachmittag muss Bentele noch zum Bundestag. Im Paul-Löbe-Haus wird die Ausstellung Erfasst, verfolgt, vernichtet. Kranke und behinderte Menschen im Nationalsozialismus eröffnet. Hier steht Bentele nicht im Mittelpunkt. Sie lehnt an einem der kleinen Tischchen am Rand, auf denen sich die Flyer stapeln. Vorne erzählt Bundestagsvize Ulla Schmidt, dass ihr das Thema schon als Gesundheitsministerin sehr am Herzen gelegen habe und dankt Wolfgang Thierse, der in der ersten Reihe sitzt, für dessen Engagement.
Im Berliner Politikbetrieb müsse sie sich noch ein bisschen orientieren, sagt Bentele. "Als Neuling wird man viel beobachtet und man muss gucken, wie man seinen Platz findet." Sie wolle jetzt schnell mit möglichst vielen Leuten reden, um ihre Ziele abzustecken und dafür zu kämpfen, sie umzusetzen. Klar ist ihre Priorität schon jetzt: Bentele steht mitten im Leben und will das auch anderen ermöglichen. Menschen mit Behinderung sollen in allen Bereichen der Gesellschaft integriert sein, das ist ihr Ziel. Das müsse unbedingt schon in Kindergarten und Schule beginnen. "Inklusion ist für mich die Grundforderung, wenn wir über gesellschaftliche Teilhabe reden."
Aber Bentele muss auf solchen Veranstaltungen warten, bis sie jemand anspricht oder ihr jemand vorgestellt wird. "Guck mal, da ist Verena", sagt Ulla Schmidt. Die beiden Frauen kennen sich von der Wahlveranstaltung von Bundespräsident Joachim Gauck, an der Bentele als prominente Behindertensportlerin teilgenommen hatte. Es gibt noch ein gemeinsames Bild.
Danach verlässt Bentele die Veranstaltung am Arm ihrer Pressesprecherin. Es gibt noch viel zu tun. Von den Infotafeln im Foyer hat die neue Behindertenbeauftragte nichts. Auf ihnen gibt es keine Blindenschrift.
Original