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Gibt's bald Muttermilch aus dem Labor?

Wie, du stillst nicht? Wer seinem Kind das Fläschchen gibt, erntet dafür oft Kritik.

Gestillt zu werden gilt für Neugeborene als das Beste. Doch nicht alle Frauen können oder wollen das. Start-ups versuchen deshalb, echte Muttermilch aus Zellen züchten.

Es ist ein ganz besonderer Moment: Die Mutter legt das Neugeborene an die Brust, dessen Lippen finden die Brustwarze und Milch fließt. Auch hormonell ist es ein kleines Wunder, dass Mütter ihr Baby von Natur aus stillen können, direkt nach der Geburt. Vorbereitet hat sich der Körper der Frau darauf schon länger. Während der Schwangerschaft sorgt eine Mischung aus Hormonen dafür, dass das Drüsengewebe der Brust sich auf die Milchproduktion einstellt. Weibliche Geschlechtshormone, aber auch das Hormon HPL spielen dabei eine Rolle. Später, wenn das Baby zu saugen beginnt, schießt Prolaktin ins Blut der Mutter und das als "Kuschelhormon" bekannte Oxytocin.

Die Milch, die in der Brust einer Frau entsteht, "ist von ihrer Zusammensetzung her exakt auf die Bedürfnisse des Neugeborenen eingestellt, was Fette, Proteine, Kohlenhydrate, den Wassergehalt, den Gehalt an Vitaminen und Spurenelementen angeht". So erklärt es Christian Albring, Präsident des Berufsverbands der Frauenärzte und niedergelassener Frauenarzt in Hannover. Deshalb stärke die Milch der Frau die Immunabwehr des Babys, schütze vor Allergien und unterstütze die Verdauung.

Möglichst sechs Monate nur Muttermilch

Das Wissen um die Vorteile der Muttermilch setzt Schwangere und Säuglingsmütter aber auch unter enormen Druck. Nicht alle können oder möchten ihr Baby stillen. Das kann körperliche Gründe haben, aber auch ganz praktische: Denn das Stillen erschwert es, gerade in den ersten Monaten, weiter voll im Beruf zu bleiben und sich die Kinderbetreuung in der Partnerschaft aufzuteilen. Und in der Öffentlichkeit ist es nicht überall akzeptiert.

Sechs Monate lang, das rät die Weltgesundheitsorganisation (WHO), sollten Frauen ihr Neugeborenes ausschließlich stillen. Obwohl 90 Prozent der werdenden Mütter beabsichtigen, ihrem Baby nach der Geburt die Brust zu geben, und 87 Prozent es am Anfang tatsächlich probieren, geben einige bald auf: Nur 68 Prozent ernähren das Neugeborene in den ersten Wochen ausschließlich mit Muttermilch, danach sinkt die Zahl der Stillenden kontinuierlich.

Stattdessen bekommen die Kinder ein Fläschchen mit Formelmilch, die in der Zusammensetzung der gesunden Muttermilch ähneln soll, ihr aber nicht wirklich nahekommt. Und so arbeiten Wissenschaftlerinnen und Unternehmen daran, Muttermilch besser zu imitieren. Vor allem zwei Firmen, TurtleTree aus Singapur und Biomilq aus den USA, versuchen echte Muttermilch nachzubilden - im Labor.

Stammzellen werden zu Brustdrüsenzellen

Die Mitarbeiter von TurtleTree arbeiten mit Stammzellen, also Körperzellen, die sich noch nicht auf eine bestimmte Aufgabe spezialisiert haben. Sie werden aus frischer Muttermilch gefischt und sollen sich in Brustdrüsenzellen verwandeln. Nachdem sie sich im Labor vermehrt haben, wandern sie in ein "spezielles, hauseigenes Laktationsmedium", erklärt Harith Bahren, Business Development Manager bei TurtleTree. Die Nährflüssigkeit enthalte diverse Komponenten, die in der Milch von Säugetieren vorkommen, erklärt Bahren, etwa Lactoferrin, das Molkenprotein Alpha-Lactalbumin, das Eiweiß Osteopontin, das das Immunsystem stimuliert, und eine Reihe verschiedener Milchzucker. "Alle diese Bestandteile sind essenziell für die frühe Entwicklung eines Kindes, stecken aber nicht in herkömmlicher Babynahrung", sagt Bahren. Die gezüchteten Stammzellen wandeln die Bestandteile in Milch um, erklärt Bahren - genau wie in der Brust der Mutter. Der ganze Prozess dauert einige Wochen.

Herkömmliche Babynahrung enthält vor allem Kuhmilch, Pflanzenextrakte und verschiedene Nährstoffe. "Wenn wir es schaffen, einige davon durch hoch funktionelle menschliche Milchkomponenten zu ersetzen", sagt Bahren, "könnten wir die Lücke schließen zwischen Säuglingsanfangsnahrung und echter Muttermilch." Die beste Nahrung für Säuglinge sei natürlich die Milch der Mutter. "Aber die zweitbeste Nahrungsquelle können hoffentlich bald wir anbieten." Das Unternehmen TurtleTree hat seinen Sitz in Singapur, dem einzigen Land der Welt, das bisher den Verkauf von im Labor gezüchtetem Hühnerfleisch zugelassen hat.

Brustdrüsenzellen im Bioreaktor

Während TurtleTree mit Stammzellen arbeitet, sollen bei Biomilq menschliche Brustdrüsenzellen im Bioreaktor Milch produzieren. Leila Strickland, Zellbiologin und eine der Gründerinnen, hatte selbst Probleme mit dem Stillen ihrer Kinder. Michelle Egger, die andere Gründerin, ist Lebensmittelwissenschaftlerin und hat sich auf Kinderernährung spezialisiert.

Biomilq arbeitet mit mütterlichen Brustepithelzellen, die Wissenschaftlerinnen zuerst im Labor kultivieren und dann zur Milchproduktion anregen. Die Flüssigkeit, die Strickland und Egger bisher ernten konnten, enthält zwar Proteine und Milchzucker, die auch in Muttermilch stecken, es werde aber noch rund zwei Jahre dauern, bis sie echter Milch von Menschen wirklich ähnlich sei. Ganz exakt ließe sich die Komplexität des "flüssigen Goldes", wie die beiden Gründerinnen Muttermilch nennen, womöglich ohnehin nie kopieren. Besser als Milchpulver sei ihre Biomilq später aber sicher, glauben sie.

Christian Albring hingegen scheint die Idee, dass Frauen in Deutschland ihre Babys mit Labormilch füttern, noch weit weg zu sein. Er sagt: "Die Herstellung von Muttermilch aus Zellen befindet sich im Stadium der Grundlagenforschung. Dieser Ansatz lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt weder bewerten noch kommentieren." Ähnlich sieht es auch Regina Ensenauer, Leiterin des 2019 gegründeten Instituts für Kinderernährung am Max-Rubner-Institut in Karlsruhe und Vorsitzende der Stillkommission. Aktuell sei Labormilch noch kein Thema, sagt Ensenauer, sie habe aber den Eindruck, dass das Interesse wachse. "Ob sie tatsächlich besser ist als Säuglingsanfangsnahrung, müsste erst noch bewiesen werden", sagt Ensenauer. "Ließe sich menschliche Milch irgendwann wirklich im Labor produzieren, könnte sie aber ein guter Kompromiss sein zwischen Stillen und bisherigem Flaschegeben."

Die Frage ist eher: Wieso klappt es mit dem Stillen nicht?

Einiges gibt es dabei aber noch zu bedenken. Entscheidend ist erst einmal zu verstehen, warum Mütter nicht stillen, sagt der Gynäkologe Albring. Denn je genauer man das wisse, desto besser könne man die Frauen auch beim Stillen unterstützen – was künstliche Muttermilch noch einmal irrelevanter machen würde. Die Gründe, sagt Albring, seien sehr unterschiedlich: "Frühgeborene zum Beispiel haben noch keine Kraft zum Trinken an der Brust und der Milcheinschuss der Mutter funktioniert noch gar nicht richtig." Und ist die Mutter gestresst und überfordert oder trinkt zu wenig, kann auch das zu Problemen führen.

Auch wunde oder entzündete Brustwarzen können dem Stillen im Weg stehen, sagt Regina Ensenauer – oder ein starkes Übergewicht bei der Mutter. In manchen Fällen verhindert auch der Partner oder die Großmutter des Säuglings das Stillen. "Man muss bedenken, dass viele Großmütter in den Siebziger- oder Achtzigerjahren selbst nicht stillten. Damals war Säuglingsmilch aus der Flasche en vogue." Regina Ensenauer verweist außerdem auf Studien, die zeigen, dass nur etwa zwei von drei Babys innerhalb der ersten Stunde nach der Geburt an die Brust der Mutter gelegt werden, obwohl das eine entscheidende Voraussetzung für erfolgreiches Stillen ist. Es gehe deshalb darum, die "Stillinitiierung nach der Geburt zu verbessern".

Auch Mütter profitieren, wenn sie ihr Baby stillen

Selbst wenn Labor-Muttermilch irgendwann auf den europäischen Markt gelangen sollte, kann sie eines nicht ersetzen: den Stillvorgang an sich. "Es geht ja beim Füttern von Muttermilch nicht nur um die Substanz", sagt Regina Ensenauer. Einem Baby die Brust zu geben, tue nicht nur dem Säugling gut: "Auch Mütter haben vom Stillen einen großen gesundheitlichen Nutzen." So sinkt etwa das Risiko für Bluthochdruck und Diabetes, weil die Mutter durch das Stillen schneller wieder Gewicht verliert. Auch ist die Gefahr von Brust- und Eierstockkrebs nachweislich geringer, wenn eine Frau gestillt hat – je länger, desto niedriger ihr Risiko. "Es profitieren sozusagen zwei Generationen", sagt Ensenauer. 

Außerdem könnte die Muttermilch – die je nach Ernährung der Mutter anders schmeckt – für die Geschmacksprägung des Babys eine entscheidende Rolle spielen. Ernährt sich die Mutter vielfältig, trägt sie diese Vielfalt ans Kind heran. Später im Leben ist es dann wohl weniger wählerisch. Die Muttermilch, glaubt Ensenauer, präge den Geschmack des Kindes für den Rest des Lebens. "Die Datenlage dazu ist noch nicht klar", sagt die Wissenschaftlerin, "aber ich gehe davon aus, dass die Milch aus der Brust der Mutter das Kind quasi an die spätere Ernährung in jenem Kulturkreis heranführt, in den es geboren wurde."

Ist personalisierte Labormilch die bessere?

Das alles kann Säuglingsmilch aus der Drogerie kaum leisten. Milch aus Stammzellen wie bei TurtleTree allerdings auch nicht – es sei denn, die Zellen stammen von der eigenen Mutter. Das sei jedoch zunächst nicht vorgesehen, heißt es vom Unternehmen. "Es wäre zwar mit der zellbasierten Technologie theoretisch möglich, die Milch zu personalisieren, aber das ist nicht das, worauf wir uns gerade fokussieren." Konkurrent Biomilq tut genau das – und sieht sich deswegen im Vorteil: Weil die Milch aus dem US-Labor für ein Baby aus den Brustepithelzellen der eigenen Mutter gewonnen wird, soll sie einmal individueller sein als die Labormilch aus Singapur. Bis es so weit ist, sind aber wohl noch einige Jahre Forschungsarbeit nötig.

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