Sonntagmorgen, neun Uhr. Zusammen mit neun anderen Reiterinnen sitze ich im „Stüberl“ des Matthofs nördlich von München. Es riecht nach Kaffee und vom Putzplatz eine Etage tiefer ist Hufgetrappel zu hören, als Verena Göttler Laptop und Beamer anschaltet. Die Tierärztin von der Pferdeklinik in Parsdorf leitet auf dem Matthof heute ein ganz besonderes Seminar: den Erste-Hilfe-Kurs für Reiter und Pferdebesitzer, der hier einmal jährlich stattfindet.
Auf dem Tisch, an dem wir sitzen, stehen ein paar Flaschen Spezi und ein Pferdebein. Riesige Knochenteile liegen herum: ein Stück Wirbelsäule, ein Unterkiefer, der Schädel eines Ponys. Weiterhin hat die Tierärztin Verbandsmaterial und Fieberthermometer mitgebracht. „Es geht heute nicht um die stabile Seitenlage oder Mund-zu-Nüster-Beatmung“, beginnt die Pferdefachfrau. „Ihr sollt vor allem lernen, die Zeit, bis der Tierarzt kommt, sinnvoll zu überbrücken. Heute Abend werdet ihr brenzlige Situationen besser einschätzen können und weniger Angst haben, wenn euer Pferd etwas hat.“
Vom Kurs für Lehrlinge zum Seminar für alle Reiter
Verena Göttler leitet Erste-Hilfe-Kurse für Reiter, seit sie Tierärztin ist. „Ein Kunde von mir hatte damals die Idee.“ Hier am Matthof, einer großen Reitschule mit mehr als 150 Pferden und eigener Fjord-, Welsh- und Shetlandponyzucht, gibt es das Seminar seit vier Jahren. „Ursprünglich hatten wir den Kurs für unsere Lehrlinge organisiert“, berichtet Hofchefin Birgit Matt. „Doch auch bei den Einstellern kam er gut an.“
Tierärztin Verena Göttler beginnt den Tag nicht mit Krankheiten, sondern mit Gesundheit: Welche Werte sind normal? Wie verhält sich ein gesundes Pferd, wie sieht es aus? „Die Besitzer kennen ihr Tier meist sehr gut und ahnen schon, wenn etwas nicht in Ordnung ist“, sagt Göttler. Sie erklärt als nächstes, wie man Fieber misst, wo am Unterkiefer der Puls zu fühlen ist und wie oft ein Pferd normalerweise atmet. „Zählt die Atemzüge nicht an den Nüstern“, rät sie. „Sonst schnuppert das Pferd nur. Schaut lieber an der Flanke nach.“
Warum die Lymphknoten nicht zu fühlen sein sollten
Wir lernen, wo die Lymphknoten sitzen und dass sie schwer zu fühlen sind: „Wenn ein Laie sie direkt findet, sind sie geschwollen und das Pferd ist vermutlich krank“, so Göttler, die uns empfiehlt, auch die Schleimhäute zu kontrollieren. „Dafür zieht ihr die Oberlippe hoch und schaut, ob die Haut darunter hellrosa ist.“ Ist sie bläulich, deutet das auf eine Lungenerkrankung hin. Ziegelrote Schleimhäute sind ein Alarmzeichen – für einen Schock.
Beim Thema Impfen gibt die Tierärztin uns als erstes eine Hausaufgabe auf: „Sucht heute Abend euren Impfpass! Die Besitzer wissen oft aufs Datum genau, wann ihr Pferd das nächste Mal geimpft werden muss, haben aber keine Ahnung, ob bei ihnen nicht eine Impfung fehlt.“ Tetanusschutz sollte jedes Pferd haben, ebenso ein- bis zweimal im Jahr eine Impfung gegen Influenza bekommen. „Die Krankheit erkennt man an dem bellenden Husten“, erklärt Göttler. „Der ist so schlimm, dass manche Besitzer ihrem Pferd das Telefon ans Maul halten, wenn sie mich anrufen, furchtbar!“ Endlich kommt die Tierärztin zum praktischen Teil und bittet die Matthof-Azubis, die am Kurs teilnehmen: „Holt mal zwei Pferde raus, die sich anfassen lassen.“
Pony ohne Puls, Thermometer im Po
An der Isländerstute Afrika und Welshponydame Willma üben wir nun, was wir im Theorieteil besprochen haben. Vorsichtig ziehe ich Afrikas Oberlippe hoch. Ihre Schleimhaut sieht aus, wie sie soll: hellrosa. Willmas Lymphknoten kann ich nicht finden – ebenfalls ein gutes Zeichen. Umso schneller ertaste ich Afrikas Schlagader an der Innenseite ihres Unterkiefers. Fünfzehn Sekunden lang soll ich den Puls zählen und das Ergebnis mit vier multiplizieren. 36 – alles in Ordnung also mit der Isistute. Nur ihre Atemfrequenz ist leicht erhöht: „Bestimmt, weil wir alle um sie herumstehen und gucken“, vermutet die Tierärztin.
Willma hat keinen Puls. Jedenfalls kann ich ihn durch das Stethoskop nicht hören. Verena Göttler korrigiert mich am Ponybauch um zehn Zentimeter weiter nach oben, da vernehme ich den Herzschlag der Stute – kräftig und gleichmäßig. Als nächstes soll ich Fieber messen und schiebe Willma zaghaft das Thermometer in den Po. „Tiefer“, sagt Verena Göttler bestimmt, „das muss bis zum Display rein!“ Als das Gerät endlich piepst und ich es herausziehe, stellt sich Willma auf meinen Fuß. Zum Glück ist sie nur ein Pony. „Manche Pferde schlagen einem direkt vors Schienbein, wenn man sie mit dem Thermometer berührt“, sagt die Tierärztin. „Stellt euch deshalb beim Fiebermessen immer seitlich daneben.“ Als ich Afrikas Atemfrequenz an der Luftröhre messen will, höre ich nur ein lautes Rascheln, so dick ist das Winterfell der Isistute. Sie schnaubt aufgeregt – dann wird sie doch sicher auch atmen?
Wenn das Pferd ins Telefon hustet
Wir gehen zurück ins Stüberl, für den nächsten Theorieblock. Es geht um die Stallapotheke, die richtige Fütterung – mir knurrt der Magen – und schließlich um Husten. „Die Zivilisationskrankheit des Pferdes“, sagt Verena Göttler, „klingt immer elend, ist aber oft harmlos.“ Noch schlimmer als Halter, die ihrem Tier das Telefon ans Maul halten, finde die Tierärztin jene, die den Husten nachmachen: „Das ist ganz schrecklich und bringt mir überhaupt nichts.“ Wichtiger sei zu wissen, wann das Pferd hustet, wie stark und ob es dabei Fieber, Nasenausfluss oder eine Leistungsschwäche hat.
Kurz vor der Mittagspause sprechen wir über die Pferdeverdauung – vom Maul bis zum Darm. Wir reichen uns Ober- und Unterkiefer über den Tisch, begutachten die Zähne darin und erfahren von der Tierärztin, dass manche Isistuten einen Hengstzahn haben. Hengstzahn, Wolfszahn, Backenzahn – so langsam dröhnt mir der Kopf. Lehrling Julia offenbar auch, denn sie öffnet passend zum Zahnarzt-Thema eine große Dose mit Weingummis. Zum Glück verursachen die bei uns keine Schlundverstopfung. „Das ist ein saublöder Notfall, der obendrein vermeidbar ist“, so Göttler, die damit schon beim nächsten Thema ist.
Rinnt einem Pferd Futter aus der Nase, hustet und würgt es und hält es den Hals gestreckt, blockiert wahrscheinlich Nahrung die Speiseröhre. „Eine Schlundverstopfung ist lebensgefährlich, weil Futter in die Lunge gelangen und dort eine Entzündung auslösen kann“, erklärt die Tierärztin. Bis Hilfe eintreffe, sollten Besitzer das Pferd führen und die linke Halsseite in Richtung Rumpf massieren.
Im Galopp durch die Kolik
Führen ist auch bei einer Kolik das Mittel der Wahl, wie wir alle schon wissen. „Gern könnt ihr das Pferd auch longieren und mal galoppieren lassen“, so Göttler. Ob Krampfkolik, Verstopfungskolik oder Verdrehung: Futterentzug ist dann ebenso wichtig wie Bewegung, lernen wir. Nicht für uns: Die Tierärztin läutet die Mittagspause ein.
Nach dem Essen geht es – zunächst theoretisch – um Anatomie. Allein das Bein eines Pferdes hat Knochen, die ich mir in der richtigen Reihenfolge einfach nicht merken kann. Röhrbein, Fesselbein, Kronbein – oder umgekehrt? Und wo war noch mal das Erbsenbein? Ich bin verwirrt, als wir unsere Anatomiekenntnisse am Pferd unter Beweis stellen sollen. Jamboo, ein Shettywallach, und Lamentha, eine Fjordstute, stehen dafür zur Verfügung. Wenn die wüssten, was sie erwartet! Mit Fingerfarbe sollen wir die Position der Knochen auf die Pferde malen. „Bei Verletzungen und Lahmheiten ist wichtig, dass ihr die Anatomie kennt“, erklärt Verena Göttler. Azubi Julia soll die Halswirbelsäule aufmalen und zieht den Strich kurz unterhalb des Mähnenkamms bis zum Widerrist. „Setzen, sechs!“, ruft die Tierärztin.
Ich lache noch, da zeigt sie auf mich und drückt mir einen großen Klecks Farbe in die Handfläche: „Wo sind die Gleichbeine?“ Bitte, was? Ich schwöre, dass ich beim Theorieteil aufgepasst habe, aber davon habe ich noch nie gehört. Ellbogen, Griffelbeine, Beugesehne – ich wüsste sie alle. Aber ein Gleichbein? Etwas hilflos male ich Lamentha auf der Rückseite ihres Vorderbeins einen großen, breiten Strich bis zum Sprunggelenk – und liege damit völlig falsch.
Je lahmer, desto Drama
Zum Glück wechseln wir kurze Zeit später das Thema: Wunden sind jetzt dran! „Ob eine Wunde tief ist oder nicht, ist oft gar nicht entscheidend“, sagt die Tierärztin. „Wichtig ist, wo sie ist und wie lahm das Pferd ist. Lahmt es bei einer kleinen Verletzung stark, stimmt etwas nicht. In der Natur können sich Pferde Lahmheit nämlich nicht erlauben.“ Sei da aber eine Blutlache und das Pferd lahme gar nicht, dann sei die Verletzung wahrscheinlich nicht so schlimm. „Ein Pferd kann bis zu zehn Liter Blut verlieren.“
Wir lernen, wie wir Wunden ausrasieren und desinfizieren und was bei einer Phlegmone, einem dicken Bein, zu tun ist: mit Wasser kühlen und einen Verband anlegen. Alle dürfen die Beugesehne von Shetlandpony Jamboo anfassen, außerdem erfahren wir, dass man mit einer Windel einen tollen Hufverband machen kann. „Aber nur, wenn es trocken ist“, warnt Göttler augenzwinkernd: „Die Dinger haben genau die Saugkraft, die die Werbung verspricht.“
Wieder im Stüberl, zeigt die Tierärztin Röntgenbilder von Knochenbrüchen und erklärt, woran wir einen Hufabszess erkennen: „Das Pferd lahmt stark, der Huf ist warm, am Fesselkopf ist der Puls fühlbar.“ Ein Angussverband, der das Horn aufweicht, bereitet die Arbeit des Tierarztes vor.
Was wir uns einbläuen sollen, darauf besteht Verena Göttler: Ein Nageltritt ist ein Notfall. „Denn wenn der Nagel die Beugesehne, den Schleimbeutel oder das Hufgelenk trifft, können die Folgen tödlich sein.“ Die Pferdeexpertin empfiehlt, einen eingetretenen Nagel mit einer Zange aus dem Huf zu ziehen und die Einstichstelle mit Nagellack oder Edding zu markieren. „Sonst schließt sich das Horn, bis ich da bin, und ich kann nicht mehr einschätzen, welche Strukturen getroffen sein könnten.“
Nur nicht zu locker!
Wir besprechen Hufrehe, Spat und die Hufrollenentzündung, dann geht es wieder runter auf den Hof, zum Verbandwickeln. Jarla, eine hochschwangere Norwegerstute, und die immer noch bunt bemalte Lamentha stehen am Anbindebalken. Ich soll Lamentha einen Hufverband anlegen. Antoinette, eine andere Kursteilnehmerin, assistiert und hält das Vorderbein der Stute hoch. Ich schlage mich gar nicht schlecht und bin in den letzten Umwicklungen, da hat Lamentha genug vom Stehen auf drei Beinen. Sie zieht Antoinette das Bein und mir die restliche Rolle Verband aus der Hand. Der eben noch blütenweiße Stoff rollt übers Pflaster in den Dreck. Gar nicht so einfach, Erste Hilfe zu leisten! Mit dem Stützverband klappt es danach besser. Die Tierärztin lobt mein gleichmäßiges Gewickel sogar. „Bei den meisten wird der Stützverband zu locker“, sagt sie.
Es ist Nachmittag geworden und gegen halb fünf beendet Pferdeexpertin Göttler nach einer letzten Fragerunde den Kurs. „Jetzt wisst ihr, ab wann es wirklich ernst wird, und könnt besser mit eurem Tierarzt kommunizieren.“ Und, was noch wichtiger ist: Wir können einem kranken Pferd helfen. Vom Tag übrig geblieben sind nämlich nicht nur die Fingerfarbe an meinen Händen und die Haare von Afrika, Willma und Lamentha an meiner Jacke.
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