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Clarice Lispector: Schon wieder entdeckt

Clarice Lispector hat in ihrem Leben nur ein einziges Fernsehinterview gegeben. Lispector, damals 57 Jahre alt und längst eine Ikone der brasilianischen Literatur, sitzt wenige Monate vor ihrem Tod rauchend in einem tiefen, braunen Ledersessel. Die Zigarette hält sie in ihrer rechten Hand, ihrer Schreibhand, die vernarbt ist seit dem Abend, an dem sie ihr Schlafzimmer von Beruhigungsmitteln benebelt mit einer Zigarette in Flammen setzte und versuchte, die lodernden Manuskripte mit der Hand zu löschen.

Wer sich heute dieses Gespräch aus den Siebzigern ansieht, kann sofort spüren: Diese Frau, die dort mit diesem alles durchdringenden Blick sitzt, ist irgendwie bedeutend. Lispector unterbricht, lässt warten, antwortet auf lange Fragen mit nur wenigen Worten. Und sie wirkt müde von dieser lästigen Situation, diesem ewigen Schauspiel, in dem die Rollen so klar verteilt sind.

Auf der einen Seite der Journalist, der sie entschlüsseln will. Und auf der anderen Seite sie, das Enigma, die nie verstandene Autorin mit fremdem Namen und eigentümlichem Akzent, der bis in die Gegenwart ein Ruf vorauseilt. Sie, die schon zu Lebzeiten als bedeutendste brasilianische Schriftstellerin galt und dennoch in Brasilien sowie im Ausland immer wieder als Geheimtipp gehandhabt wurde. Sie, die von Journalisten als mystische Sphinx beschrieben wurde und wird, als Wirbelsturm, als undurchdringbar und unerklärlich, was weniger über Lispector selbst erzählt und mehr über eine männliche Literaturwelt und ihr Vorstellungsvermögen einer intellektuellen, schreibenden Frau. Einer befreundeten Schriftstellerin riet Lispector: "Liginha, lächle nicht immer so. Autorinnen, die lächeln, werden nicht ernst genommen."

Später, als die Aufzeichnung längst vorüber ist, stellt sie noch eine Bedingung, der natürlich alle folgen werden: Das Gespräch dürfe erst nach ihrem Tod (1977) veröffentlicht werden. Clarice Lispector hat ein Gespür für Dramaturgie.

Am 10. Dezember wäre Clarice Lispector 100 Jahre alt geworden. Seit vor zehn Jahren ihre neue Biografie erschienen ist, erfährt die Autorin eine Blütezeit: Ihre Romane werden neu übersetzt, ihre Kurzprosa gesammelt herausgegeben, in erscheint nun anlässlich des Jubiläums neben einer neuen Gesamtausgabe erstmals auch ihr Briefwechsel. Damit gliedert sich Lispector in eine Reihe von überlesenen Autorinnen ein, die derzeit wiederentdeckt werden: Vicky Baum zum Beispiel. Oder Annie Ernaux.

Und trotzdem ist die Geschichte von Clarice Lispector nicht einfach die Geschichte einer Wiederentdeckung. Sie wird nicht einfach wiederentdeckt. Sie wird schon wieder wiederentdeckt.

Ruhe und ein Zimmer

Chaja Lispector wurde 1920 als jüngste von drei Töchtern jüdischer Eltern in der heutigen Ukraine geboren. Im Jahr 1922 floh die Familie vor antisemitischen Pogromen nach Brasilien, wo die Lispectors neue Namen annahmen: Chaja wurde zu Clarice. Die Familie lebte in Armut, der Vater arbeitete als Kleinhändler, die Mutter starb früh. Clarice Lispector war eine herausragende Schülerin, studierte zu einer Zeit Jura, zu der es kaum Juristinnen gab. Mit 23 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman, der wie eine Bombe in die brasilianische Literaturwelt einschlug: Nahe dem wilden Herzen.

Das Buch, das - wie bei Werken von Autorinnen damals üblich - in einem grellen, rosafarbenen Einband erschien, handelt von der Ehe. Oder besser gesagt: Von den Unwägbarkeiten, der Unwucht, dem Unglück einer Ehe. Nach der Hochzeit, sagt Joana, die Heldin des Romans, brauche man nur noch auf den Tod zu warten. Noch während der Arbeit an dem Buch heiratet Lispector einen Diplomaten.

Eine unwahrscheinliche Umkehrung: Die vertriebene, jüdische Migrantin, die mit ihrer Familie auf einem Schiff nach Brasilien geflohen war, kehrte 1945, als studierte Juristin, vielbeachtete Autorin und Frau eines Diplomaten samt Pass und christlichem Nachnamen im Flugzeug auf den vom Weltkrieg gezeichneten Kontinent ihrer Geburt zurück, um sich dort in höchsten Kreisen zu bewegen. Lispector wurde durch diese Ehe von finanziellen Sorgen befreit, das Leben als Frau eines Diplomaten gab ihr Ruhe und Zeit, ein Zimmer für sich allein. Zumindest in der Theorie.

Lispector vermisste Brasilien, sie verfiel in eine schwere Depression, die sie bis an ihr Lebensende begleiten würde. "Die Schweiz", schreibt sie ihrer Schwester, "ist ein Friedhof der Sinneseindrücke." Und für sie, die Schriftstellerin, hatte die Entfernung noch einen Haken: Lispector wurde bald nach ihrem Debüt von der brasilianischen Literaturwelt vergessen. Als man es zwanzig Jahre später als Taschenbuch herausgab, wurde es im Vorwort als "den heutigen Lesern völlig unbekannt" beschrieben. Wenn man so will, war das ihre erste Wiederentdeckung.

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