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Trump, Corona-Idioten, Mord an George Floyd: 2020 hat mich zerstört [1]

Dies ist kein Artikel - es ist eine Bankrotterklärung. An mich selbst. An die Tatsache, dass ich wirklich lange dachte, es könne gar nicht schlimmer werden. War das Naivität? Dummheit? Mein weißes, privilegiertes Leben, dank dessen ich immer ganz okay davongekommen bin? Oder anerzogener Optimismus?

>> Wie sich Rassismus wirklich anfühlt

AfD, Trump, Weinstein - und dennoch blieb die Hoffnung

Keine Ahnung, woran es lag, aber bisher gab es in meinem Herzen ein kleines Fleckchen, das wirklich dachte, dass zwar alles ziemlich scheiße ist, aber insgesamt doch alles noch irgendwie okay sei. Ich habe daran geglaubt, dass es sowas wie Moral gibt und eine Exekutive, die danach handelt.

Selbst als ein so abscheulicher, demokratiehassender Haufen wie die AfD es in den Bundestag schaffte, selbst als die Flüchtlingskrise ausgerufen und sich Menschen im Bekanntenkreis plötzlich als Rassisten selbst enttarnten, selbst als eine so misogyne, ungebildete, geldverblendete und egomane Witzfigur wie Trump zum Präsidenten der USA gewählt wurde, selbst als endlich laut darüber gesprochen wurde, dass Frauenhass und Sexismus überall herrschen und Leute wie Weinstein, Epstein, Cosby oder Kelly jahrelang Leben zerstören durften, selbst ... ich könnte jetzt ewig so weitermachen. Ich denke, man versteht was ich meine.

Selbst nach all diesen weltpolitischen und einschneidenden gesellschaftlichen Momenten purer Unmenschlichkeit und dem Beweis dafür, dass mal wieder eher gegenseitiger Hass als Nächstenliebe gesiegt hat, konnte ich bisher nicht anders, als zu glauben, dass es die Mehrheit von uns allen schafft, sich gegen unmenschliche, völlig verblödete und nur auf die eigene Vormachtstellung pochende Atzen zu entscheiden.

Solidarität für #BlackLivesMatter? Was ist das?

Und nun schaut man um sich und siehe da: Wir sind mitten in einer höchst ansteckenden Pandemie und meine eigene Berliner Techno-Bubble findet es angemessen, an Pfingsten auf dem Landwehrkanal eine virenkatalysierende Party zu feiern, statt Social fucking Distancing ernst zu nehmen.

Währenddessen demonstrieren nur Meter weiter Menschen gegen Rassismus, um ihrer Angst, ihrer Frustration, ihrer Trauer Luft zu machen, seit George Floyd von einem US-amerikanischen Polizisten ermordet wurde, als sei sein Leben nichts wert gewesen. Auf der Bootsparty für den "Erhalt der Clubkultur" ist davon gar nichts zu merken. Solidarität? Was ist das? Hauptsache die Party geht weiter! Sitzt das Glitzer noch? Ist der Aperol noch voll? Lieber den Bass lauter drehen, damit man die Kranken vom nahegelegenen Krankenhaus und die Forderungen der #BlackLivesMatter-Bewegung nicht hört!

Trump und der Rassismus

Unterdessen hat sich die gefährlichste blonde Fönfrisur der Welt im Schutzbunker des Weißen Hauses eingerichtet. Trump hat nämlich Angst vor den gewaltsamen Protestlern vor seiner Tür. Die sind übrigens alle von der Antifa, wie er twittert, Beweise hat er keine - aber wen interessieren diese noch?

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Was Trump nicht macht: Darüber sprechen, warum Abertausende auf die Straße gehen, warum sie eine Gesellschaft nicht mehr hinnehmen, in der sie seit Jahrzehnten benachteiligt werden, in der sie immer die zweite Wahl waren oder sich aufgrund ihrer Hautfarbe nicht sicher fühlen. Angst hat Trump, vor Menschen, für die George Floyd zum Symbol geworden ist, dafür, dass sie sich jeden Tag so fühlen, als säße ihnen ein weißer Mann mit seinem Knie im Nacken. Hauptsache Trump und sein Fön sind in Sicherheit!

Und als ob das schon nicht perfide und schrecklich genug wäre, gibt es Annahmen und Theorien von Politolog*innen und Journalist*innen, dass die aktuellen Unruhen der Wiederwahl Trumps eigentlich nur wieder in die Karten spielen.

Der ängstliche, weiße Amerikaner: Er wird im November ziemlich wahrscheinlich wieder Trump wählen. Auch weil der demokratische Kandidat Joe Biden an Blässe und Strategiearmut kaum zu überbieten ist. Und auch trotz der Corona-Pandemie, die auch aufgrund Trumps Ignoranz so schlimm wütet, wie nirgendwo sonst auf der Welt. Amerikaner*innen verlieren Jobs, Wohnungen, Leben, haben kein Auffangnetz und die Zahl der Infektionen steigt - dennoch sorgt Trump sich hauptsächlich um seine Konzern-Buddies und drängt darauf, die Corona-Restriktionen wieder zu lockern.

Es sind nicht die schlechten News, es sind die Reaktionen darauf

2020 hat alles, was schlimm ist an uns und unserer Gesellschaft, noch mal gnadenlos an die Oberfläche gespült. Und damit meine ich gar nicht die Tatsache, dass Trump sich angesichts des Leids seiner Bevölkerung verhält wie ein grausamer Tyrann. Ich meine damit nicht, dass wir alle von einer Pandemie ergriffen wurden und nun um Gesundheit und Jobs fürchten müssen. Ich meine damit nicht die Tatsache, dass Rassismus jeden Tag passiert und in unser aller Köpfen festsitzt - ich meine die Reaktionen darauf.

Ich meine die Tatsache, dass nichts passiert, wenn der mächtigste Mann der Welt öffentlich und offensichtlich lügt, verunglimpft und beschimpft, dass er die aktuelle Situation, in denen Menschen nichts anderes mehr übrig bleibt, als auf die Straße zu gehen, noch anheizt, noch Öl ins Feuer gießt, noch mehr Wunden aufreißt - und ihm nichts passiert. Das er vielleicht sogar mit einer weiteren Amtszeit belohnt wird. Und es hinterlässt mich verzweifelt, wenn ich daran denke, dass ich wirklich an so etwas wie ein moralisches System geglaubt habe, dass einen wie Trump nicht davonkommen lässt.

Ich werde wütend, wenn Menschen auf die Straße gehen, um für ihre Grundrechte zu kämpfen und darauf aufmerksam machen müssen, dass auch ihre Leben, die Leben von Schwarzen, etwas wert sind und es gleichzeitig genug unreflektierte Hampelmänner und -frauen gibt, die etwas davon faseln, dass sie keine Hautfarben sehen und ja alle gleichwichtig sind und sowieso: "Rassismus geht ja auch gegen Weiße!"

Ich könnte meinen Rechner anzünden, wenn ich sehe, wie die ARD es tatsächlich zu Wege bringt, die Maischberger-Sendung über Rassismus mit ausschließlich weißen, nicht betroffenen Menschen zu veranstalten. Als dann - auf Proteste hin - doch eine PoC eingeladen wird, scheitert die Moderatorin dennoch daran, irgendeine Form von sozialer Intelligenz, Weitblick und Empathie zu zeigen. Auch beim "Spiegel"-Livetalk über Rassismus in Amerika wurde erst nach Kritik dem komplett weißen, männlichen Panel ein Schwarzer Speaker hinzugefügt.

Es ist fast schon eine Glanzleistung einem so brisanten und aktuellen Thema so viel Ignoranz entgegenzubringen und zu denken es sei eine gute Idee, weiße, alte Männer nach ihrer Meinung zu fragen.

2020 - komm lass gut sein. Ich geb' auf!

Dieser Text könnte ewig weitergehen. Ich habe noch nicht mal davon angefangen, dass beim Corona Konjunkturpaket die so oft beklatschten und doch so wahnsinnig systemrelevanten Krankenpfleger*innen und Sanitäter*innen in keinem Wort erwähnt werden.

Ich kann auch nicht noch mal über Attila Hildmann und Xavier Naidoo reden, die nicht müde werden, ihren blanken Rassismus und Fremdenhass in undurchsichtige und vollkommen wahnsinnige Verschwörungstheorien zu kleiden.

Mir fällt es immer schwerer, ein weiteres Video von Polizeigewalt gegen Menschen anzuschauen, weil mein Gemüt es so langsam nicht mehr erträgt. Ich brauche auch keinen weiteren Beweis dafür, dass Trump ganz offensichtlich ein komplett gestörter Narzisst ist.

Ich brauche nichts darüber hören, dass wir in Deutschland gar kein so schlimmes Rassismusproblem haben oder Rassismus ja irgendwie auch relativ ist, wenn das erste was mir einfällt Hanau, die NSU oder die verdammte Tatsache ist, dass in all den Redaktionen in denen ich arbeite, fast nur weiße Menschen sitzen und ihren Stimmen Gehör verschaffen dürfen.

Kann es jetzt nur noch besser werden, weil wir schon ganz unten sind?

Vielleicht befinden wir uns einer Zeit, in der sich alles zuspitzt, es einmal richtig knallt, und es danach wieder besser wird. Vielleicht ist das so. Eines ist sicher: Das geht nicht von alleine. Wir müssen alle daran arbeiten, dass sich endlich und endgültig etwas ändert. Sich enthalten ist nicht mehr. Jede*r der/die schweigt, ist Mittäter*in.

Und vielleicht, nur vielleicht, schaffen es die vielen Demonstrierenden in Amerika, Trumps zweite Amtszeit ordentlich ins Wanken zu bringen. Und vielleicht tut es den ganzen Partywütigen vom Pfingstwochenende ja auch leid, dass sie egoistisch und unreflektiert waren. Vielleicht bekommen es auch die Leitmedien irgendwann hin, über ihren eigenen Tellerrand zu schauen. Vielleicht ist unsere Verrohung noch nicht ganz so weit fortgeschritten. Sieh her: Da ist es wieder, dieses kleine Fünkchen Hoffnung, dass noch nicht alles verloren ist. 2020 - unsere Rechnung ist vielleicht doch noch offen.

Quelle: Noizz.de

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