Eigentlich wollte Skúli Thorarensen nur ein bisschen Zeit überbrücken. Die Zeit, bis er in seine neue Berliner Wohnung ziehen würde. Für seine alte Wohnung, 90 Quadratmeter in Prenzlauer Berg, war ihm der Vertrag gekündigt worden. Er konnte sich zwar leisten, dort alleine zu wohnen, im Vergleich zu vielen anderen, Geld war nicht in erster Linie das Problem, aber eine neue Wohnung, also überhaupt Platz in dieser Stadt zu finden, schon.
Die Städte waren einmal die großen Sehnsuchtsorte. Dann wurde privatisiert und verdichtet. hat in den letzten zehn Jahren eine Mietpreissteigerung von 104 Prozent erfahren. In der Zeit, als sich Thorarensen auf die Suche nach einer neuen Wohnung begibt, geht ein Post auf Facebook viral, der den Gipfel dieser Misere beschreibt: "Wir vermieten eines unserer Badezimmer für 100 Euro pro Woche. Das mag nach einem merkwürdigen Angebot klingen, aber es ist unsere Art, den Leuten in Berlin auf diesem verrückten Mietmarkt zu helfen." Der Post erntete viel Häme, aber er verdeutlicht die Situation.
Weil Thorarensen also erst einmal irgendwo unterkommen musste, zog er Ende Februar aufs Brandenburger Land, auf einen ehemaligen Gutshof bei Bad Belzig, der sich Coconat nennt. Das ist eine Abkürzung für "Community and concentrated work in nature". Mit dem Coconat ist vor drei Jahren das urbane Konzept des Co-Working und Co-Living in einem 80-Einwohner-Dorf inmitten des Naturparks Hoher Fläming angekommen.
Laptop-Leben auf dem LandHinter den schweren Holztüren des Gutshofs Glien aus dem Jahr 1660 eröffnet sich ein Paradies für großstadtgestresste Digitalarbeiter: Die mobilen Laptop-Arbeiter verteilen sich auf die Gemeinschaftsräume. "Zuhause ist da, wo man WLAN hat", steht auf einem Schild in der Küche. Im Hinterhof diskutieren Arbeitsgruppen über Anglizismen wie added value, stakeholder oder traffic. In den Pausen soll die Naturnähe für Tiefenentspannung sorgen. Im Garten ruht ein schilfbewachsenes Naturbad, und neben einer Feuerstelle gackert ein Dutzend Hühner.
Der 52-jährige Skúli Thorarensen, geboren in Reykjavík, ist studierter Philosoph, und er ist Start-up-Gründer. Er hat eine Software entwickelt, die Schulaufgaben, Lehrpläne, Noten oder Abwesenheiten digital verwaltet. Weil deutsche Schulen an dem Lernmanagementsystem interessiert sind, will er auch in Deutschland arbeiten. Sein Team von Programmierern ist aber auf der Welt verstreut. 80 Stunden arbeite er die Woche, sagt Thorarensen. Die Stadt vermisse er nicht. Ohnehin habe sie mit der Pandemie noch mehr an Attraktivität eingebüßt. Und ausgerechnet hier auf dem Land kann er der Anonymität und Einsamkeit entkommen. Wenn er Gesellschaft suche, müsse er sich nur an die Bar oder in die Gemeinschaftsküche setzen. "Ich habe hier ständig interessante Gespräche." Und wenn er mit Kolur, seinem Labrador-Retriever, spazieren geht, kommt er schnell mit den Gassigehern aus dem Dorf ins Plaudern. Anders als in der Stadt hat im Coconat keiner Probleme mit Haustieren. Obwohl er zunächst nur für wenige Wochen bleiben wollte, lebt Thorarensen inzwischen seit zehn Monaten hier. Er hatte keine Lust mehr, den Berliner Mietmark zu durchkämmen.
Als in Berlin schon vor einigen Jahren alle begannen, von Überfüllung zu sprechen, begannen die Coconat-Gründer Janosch Dietrich und seine Partnerin Julienne Becker, nach Immobilien in Brandenburg zu suchen. Becker hat vorher im Co-Working in Berlin gearbeitet und Dietrich unter anderem in der Jugendarbeit und organisierte Filmfestivals. "Wir hatten nicht den Traum, mit den Kindern aufs Land zu ziehen, damit sie in der Natur besser aufwachsen", sagt er. Er wollte sich nicht mit der Kernfamilie in ein Eigenheim im Speckgürtel zurückziehen: "Jeder sitzt nur in seinem Garten, da hat doch keiner mehr Bock drauf. Und was ist mit den Alleinerziehenden oder Menschen, die keine Eltern sind?" Seine Utopie und anscheinend auch die Utopie vieler Großstädter war das gemeinschaftliche Wohnen und Arbeiten auf dem Land.
Während die Städte immer öder, dichter und zusehends unbezahlbar werden, wird das Leben auf dem Land immer interessanter, scheint es. Es ist spannend, das Land als neue Zukunftswerkstatt zu betrachten. Das Land wird zur Projektionsfläche für Gestaltungsräume und Freiheitsträume. Abseits der Spinnenlinien der Bahn ist noch Platz für Projekte, Werkstätten, Studios, Wohnraum. In leer stehenden Resthöfen, stillgelegten Fabriken oder Klosteranlagen verwirklichen die neuen Landbewohner ihre Ideen für neue Formen vom gemeinschaftlichen Wohnen und Arbeiten - und bringen damit eine Art des Zusammenlebens aufs Land, die bislang vor allem aus Städten bekannt ist. Das Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung hat zusammen mit der Initiative Neuland21 die Studie Urbane Dörfer herausgebracht und darin in fast zwei Dutzend Projekten untersucht, wie Städter digitales Arbeiten aufs Land bringen.