Die Mutter rollt ihr weißes T-Shirt hoch und streckt ihren noch runden Bauch in die Kamera. Vor zwölf Tagen hat sie ihr erstes Kind zur Welt gebracht – ein Mädchen. Mit ihrem Mann, einem Amerikaner, wie sie Anfang 30, lebt die Deutsche in Kiew, nicht weit vom Maidan-Platz. Gerade gab es in der Nähe einen lauten Knall. Die Mutter ist noch etwas irritiert, weil sie nicht weiß, woher er kam und was ihn ausgelöst hat. Nun aber soll es nicht um mögliche Explosionen gehen. Sondern um ihren Bauch, über den sich längs eine lange Narbe zieht, weil sie ihr Kind per Kaiserschnitt bekommen hat.
"Komm ein bisschen näher!", sagt Sabine Kroh an ihrem Wohnzimmertisch in Berlin-Wedding. Ihr MacBook steht aufgeklappt auf einer großen, gläsernen Tischplatte, ringsum viele Vasen mit Blumen. Kroh ist 48, eine Frau mit warmen, neugierigen Augen. Das Neugeborene hat sie eben schon begutachtet. Es ist gut genährt. Der Nabelschnurrest ist bereits abgefallen. So weit alles in Ordnung. Nun blickt Kroh auf den Bauch der Mutter. Die Narbenenden sind noch grünlich verfärbt vom Desinfektionsmittel. "Du musst die Enden noch mal säubern", sagt sie. "Pass auf, dass sich nichts entzündet. Schick doch bitte ein Foto, dann kann ich es mir noch mal genauer anschauen. Und schick auch ein Foto vom Nabel, okay?" – "Mach ich", verspricht die Mutter.
Was fehlt, wenn die Hebamme per Telefon oder Videochat betreut?
Das Smartphone von Kroh ist voller Fotos von Kaiserschnittnarben, vom durch Milchstau geröteten Brüsten, blutenden Bauchnabeln oder Babyhintern mit Windelausschlag. Kroh ist Hebamme. Aber eine, die den traditionellen Handwerksberuf ins digitale Zeitalter überführen will – und die Dienste der deutschen Hebammen ins Ausland exportiert.
Call a Midwife heißt ihr Unternehmen, das sie vor einem Jahr gegründet hat. Der Investor Matthias Jäckel, Gründer einer Softwareentwicklungsfirma, ist vor ein paar Monaten mit einer sechsstelligen Summe eingestiegen. "Healthcare ist ein Zukunftsmarkt", sagt er. Jäckel will mit dabei sein, auch wenn vieles noch nicht klar geregelt sei, der Umgang mit Daten etwa oder die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen. Kroh hat jetzt ein Büro in Jäckels Firma, in einem alten Backsteingebäude. Aber eignet sich der Beruf der Hebamme wirklich dazu, ihn per Telefon, Video oder Chat auszuüben? Muss man nicht vor Ort sein, fühlen, anpacken, Händchen halten?
Anfangs wollte Kroh noch wie automatisch an den Bildschirm greifen, gibt sie zu. Und nicht alles klappt über Skype. "Wenn das Baby Gelbsucht haben könnte, ist die Farbigkeit des Computers einfach nicht eindeutig genug", sagt sie. Und natürlich kann Kroh, die schon half, 1800 Kinder zur Welt zu bringen, den Müttern nicht per Videoanleitung bei der Geburt zur Seite stehen.
Geburtshilfe allerdings macht Kroh schon seit Jahren nicht mehr. Ein Problem, das sie mit vielen Hebammen teilt, sind die schlechten Arbeitsbedingungen, allem voran die hohen Kosten einer Haftpflichtversicherung für Haus- und Beleggeburten. Über 7.000 Euro pro Jahr kostet sie. Viele Hebammen mussten ihren Beruf oder zumindest die Geburtshilfe deshalb aufgeben, dabei ist der Bedarf eigentlich groß.
Kroh kommt aus einer Arztfamilie, der Vater ist Hygienemediziner, die Mutter Allgemeinärztin. Sie selbst überlegt zunächst, auch Ärztin zu werden. Dann aber entscheidet sie sich mit 16 Jahren erst mal für eine Ausbildung an der Dresdner Hebammenschule. Die Ausbildung ist intensiv: Anatomie, Physiologie, Gynäkologie, Hebammenkunde, Stillen, Wissen ums Baby. Die ersten Wochen darf sie nur Kreißsäle schrubben, im dritten Jahr dann selbst Geburten begleiten.
Der Beruf gefällt ihr so gut, dass sie nichts anderes mehr machen will. Mit der Wende 1989 kommt allerdings ein Geburtenknick, und es gibt zunächst wenig Arbeit. Kroh reist erst mal mit dem Rucksack um die Welt, unterstützt in Mexiko Hebammen bei Hausbesuchen, weil sie lernen will, wie es andere machen. Zurück in Deutschland arbeitet sie zunächst fest angestellt in einem Krankenhaus, Teilzeit, am Ende des Monats kommen etwas mehr als 1500 Euro zusammen. Später ist sie dann freiberuflich tätig – so wie heute die meisten ihrer Berufskolleginnen.
2015 hospitiert Kroh in Moshi in Tansania in einem Krankenhaus. Sie stellt fest, dass die mobile Betreuung mit Handy dort bereits viel selbstverständlicher ist als in Deutschland. Die Idee zu Call a Midwife kommt ihr dann später, als ein Berliner Pärchen ihren Rat sucht – er aus Finnland, sie aus Pakistan, beide in der IT-Industrie tätig. Kroh betreut sie während und nach der Schwangerschaft. Das Paar empfiehlt sie an Freunde aus den jeweiligen Heimatländern weiter, diese rufen dann bei ihr an. Und Kroh denkt: warum die Dienste der Hebammen nicht auf dem globalen Markt anbieten? 2016 geht sie für ein paar Wochen in ein Krankenhaus in Cambridge, um die englischen Fachvokabeln zu lernen. Als sich der amerikanische Vater in dem Kiewer Wohnzimmer neben seine deutsche Frau vor die Laptop-Kamera setzt, wechselt Kroh schnell ins Englische, sagt caesarean statt Kaiserschnitt.
Seit der Gründung ihres Start-ups arbeitet Kroh 13, 14 oder 15 Stunden am Tag. Der Beratungsbedarf sei da. "Googeln Sie mal: How do I breastfeed my baby? Da erhalten Sie über sechs Millionen Einträge." Kroh glaubt, dass das Internet die Frauen eher verunsichere. Ihre ersten Informationen erhielten sie nicht mehr vom Arzt, sondern aus Blogs, Foren oder YouTube-Videos. Schwangere und junge Mütter würden so möglicherweise falsche Antworten erhalten oder sich unnötig Sorgen machen. Kroh sieht sich selbst als eine sichere Beratungsstelle im Netz. Und sie will nicht einfach nur zugucken, wie die Telemedizin das Gesundheitswesen verändert. "Wir Hebammen müssen jetzt dabei sein", sagt sie. "Wenn wir es nicht machen, macht das jemand anderes für uns. Vielleicht jemand, der sich nicht mit dem Beruf auskennt und ein rein monetäres Interesse hat."
Doch nicht jeder sieht das so wie Kroh. "Ich habe jetzt Hater, wie das auf Neudeutsch heißt", sagt sie, "die treiben mich durchs digitale Dorf." Manche Hebammen sehen Kroh nicht als Erneuerin ihres Berufes, sondern als eine, die die Tradition kaputt macht und dem deutschen Markt noch mehr Hebammen entzieht. "Ich verstehe ja, dass dem, was ich mache, mit Angst, Abwehr und Unverständnis begegnet wird", sagt Kroh. Gleichzeitig merkt man ihr an, dass sie der Unmut aus den eignen Reihen verletzt: "Ich greife ja auch keine Hebammen an, die Wassergeburten mit Delfinen anbieten. Und die gibt es."
Der Deutsche Hebammenverband steht digitalen Angeboten wie Call a Midwife grundsätzlich kritisch gegenüber, wenn diese nur Selbstzahlerinnen zur Verfügung stünden. "Wir wollen keinen Weg in eine Zweiklassenmedizin", heißt es von Verbandsseite. "Die Preise, die aufgerufen werden für diese Zusatzangebote, sind nur für Gutverdienerinnen möglich. Wir betrachten diese Entwicklung mit Sorge, weil sie darauf hinweist, dass rund um die Geburtshilfe eine Schieflage entstanden ist." Auch Kroh sagt: "Klar, das sind meistens gut gebildete und gut situierte Leute." Die modernen Wanderer eben, die überall auf der Welt Jobs annehmen. Krohs Kunden melden sich vor allem aus Europa und Amerika. Aber auch mit einem indischen und einem pakistanischen Paar hat sie schon über Stillprobleme geskypt.
Ihre Dienstleistungen kosten zwischen 50 und 500 Euro – je nach Umfang
War das Portal ursprünglich nur für Expats gedacht, "dreht sich das gerade um", sagt Kroh. Immer mehr Mütter würden sich jetzt auch aus Deutschland melden. Frauen, die entweder gar keine Hebamme gefunden haben oder deren Hebamme die Betreuung bald nach der Geburt eingestellt hat. Viele Mütter wünschen sich aber auch nach der Geburt immer wieder Beratung. Mit ihnen redet Kroh über das Gewicht des Kindes, die bereits abgefallene Nabelschnur, das erste Babybad oder die richtige Stillposition. "Früher hätte ich sagen müssen, ich kann dich erst übermorgen besuchen. Heute kann ich direkt beraten." Das kleinste Paket für eine Stand-by-Rufbereitschaft für einen Monat inklusive 30 Minuten Gesprächszeit kostet 49 Euro, für eine dreimonatige Rufbereitschaft inklusive 90 Minuten und 150 SMS verlangt sie 499 Euro. Alles ist online buchbar. In einem Jahr, so hofft Kroh, werde ihr Start-up die ersten Gewinne abwerfen.
Zehn Hebammen beschäftigt sie mittlerweile auf freiberuflicher Basis. Die Mütter können sie anhand von Fotos und biografischen Angaben online auswählen. 30 Prozent der Einnahmen behält Call a Midwife, der Rest geht an die Hebammen. "Sie können bei uns gut verdienen", sagt Kroh, "aber auch weiter Hausbesuche bei deutschen Müttern machen. Ich will sie dem Markt nicht wegnehmen." Kroh versteht ihr Unternehmen stattdessen als moderne Ergänzung, mit der die Hebammen ihr mageres Gehalt aufbessern können. Solange die Politik die Arbeitsbedingungen der Hebammen nicht verbessere, sagt Kroh, sei das für viele eine zusätzliche Möglichkeit, ihrem Beruf nachzugehen.