Laurie Penny, Jahrgang 1986, hat sich als Bloggerin einen Namen gemacht und für die britische Tageszeitung "Morning Star" sowie die Wochenzeitung "New Statesman" als Kolumnistin gearbeitet. Anfang 2012 übernahm sie eine Kolumne im "Independent", kehrte aber im Oktober wegen Differenzen zurück zum "New Statesman". Außerdem schreibt sie regelmäßig für den "Guardian". Im September 2017 erschien ihr neues Buch "Bitch Doktrin" bei Edition Nautilus, eine Sammlung ihrer wichtigsten Essays und Kolumnen aus den Jahren 2013 bis 2016.
SPIEGEL ONLINE: Frau Penny, Sie werden häufig eine "Bitch", also eine Schlampe oder Zicke, genannt. Jetzt haben Sie auch Ihr Buch so betitelt. Ist "Bitch" für Sie ein politischer Begriff?
Penny: Ich benutze ihn so. Das heißt aber nicht, dass es jeder tun müsste. Eine Bitch setzt die eigene Agenda an die erste Stelle. Ich habe Glück, dass mein Leben und mein Beruf die Freiheit mit sich bringen, dass ich sagen kann, was ich denke. Aber es wäre weniger selbstverständlich, wäre ich nicht weiß, nicht mehrheitlich cis und straight. Was ich sagen will: Es geht nicht nur darum, dass ich eine Frau bin, sondern was für eine Frau.
SPIEGEL ONLINE: Sie sagen, bedauerlicherweise wollen immer noch mehr Frauen sein wie Melania Trump und nicht wie Hillary Clinton.
Penny: Stimmt, die Abscheu, die sich gegen Clinton richtete, nur weil sie es wagte, die Präsidentschaft einzufordern, war enorm. Viele Frauen fürchten die Konsequenzen, die es mit sich bringt, eine Führungsrolle zu übernehmen, und wollen dann doch lieber die Prinzessin sein. Das wirkt einfacher.
SPIEGEL ONLINE: Vielleicht will man ja weder die eine noch die andere sein?
Penny: Natürlich, aber Menschen mögen einfache Geschichten. Du kannst entweder die Bitch sein, die anders denkt und ihre eigene Agenda vorantreibt oder diese ruhige hübsche Prinzessin, die einen gewissen Sinn für Freiheit aufgibt, aber dafür beschützt wird. Ich habe viele Probleme mit Hillary Clinton. Aber ich hätte sie gewählt, weil sie mir die liebere Feindin gewesen wäre.
SPIEGEL ONLINE: Weil sie Vertreterin eines Karrierefeminismus ist?
Penny: Ja, ich bin gegen diesen weißen Mittelklasse-Feminismus, diese Idee, dass Frauen Top-Jobs in Politik und Finanzen bekommen. Während es in den USA noch nicht einmal so etwas wie Mutterschutz gibt. Das ist doch verrückt. Mir geht es mehr um die Investition in Gesundheit, Wohlfahrt und Bildung als darum, wie Frauen innerhalb des Systems gewinnen können.
SPIEGEL ONLINE: Muss Feminismus zwingend links sein?
Penny: Ein unpolitischer Feminismus erreicht nicht viel. Dieses reaktionäre Aufbegehren, das sich aktuell gegen den modernen Feminismus richtet, ist zutiefst rassistisch. Die Schnittstelle von Sexismus und Rassismus treibt die White-Supremacy-Bewegung weltweit voran. Diese Obsession mit "unseren" Frauen, die vor braunen oder schwarzen Männern beschützt werden sollen. Ein Feminismus, der nicht links und antirassistisch ist, bringt uns nicht viel.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch stellen Sie die Frage: "Was bedeutet es, psychisch gesund zu sein in einer Welt, die den Kopf verloren hat?"
Penny: Was wir als verrückt verstehen, ist sozial und politisch determiniert. Es ist noch nicht so lange her, da galten Homosexuelle oder Frauen, die Spaß am Sex haben, als psychisch krank. Ich bin sehr daran interessiert, ob Menschen an Schmerz und Traumata leiden und nicht daran, ob sie als verrückt wahrgenommen werden.
SPIEGEL ONLINE: Sie interessieren sich für Gefühle?
Penny: Ja, unsere Gesellschaft verpasst Chancen, wenn sie nicht nach der Verbindung von Traumata und Politik fragt. Danach, was jemanden zu einer extrem rechten Position bewegt oder wie es sich anfühlt, links zu sein. Man kann sich manchmal verrückt fühlen, wenn man links ist. Es ist erschöpfend, sich gegen den Status quo zu stellen.
SPIEGEL ONLINE: Was ist politisch an Emotionen?
Penny: Alles! In unserer Kultur werden Gefühle einerseits auf erstaunliche Art unterdrückt, anderseits sind wir nicht in der Lage, darüber zu sprechen, dass bestimmte Gefühle nur Gefühle bleiben sollten. Wenn deine authentische Selbstdarstellung eine gewalttätige ist, solltest du sie bitte für dich behalten. Nicht jedes Gefühl hat es verdient, auch ausgedrückt zu werden.
SPIEGEL ONLINE: Ist es moralisch verwerflich, wütend zu sein?
Penny: Kein Gefühl ist moralisch gut oder schlecht. Die Frage ist, was wir daraus machen. In unserer modernen Gesellschaft scheitern wir an der Unterscheidung zwischen Gefühl und Handlung. Man kann ekelhafte Gefühle haben, solange man sie nicht gegen andere richtet oder die eigenen Gefühle mit Fakten verwechselt. Nur weil man fühlt, die ganze Welt ist gegen einen, muss das nicht stimmen. Nur weil man fühlt, Immigranten und Frauen machen einem das eigene Geburtsrecht streitig, muss das nicht stimmen.
SPIEGEL ONLINE: Der Clinton-Wahlkampf oder auch die Remain-Kampagne in Großbritannien versuchten, die Wähler mit rationalen Argumenten zu erreichen.
Penny: Fakten funktionieren in der Politik nicht. Sie bieten keine Visionen. Sie hatten die Idee, wenn sie nur die Fakten zeigen würden, wäre das ausreichend. Aber darum ging es noch nie in der Politik. Politik ist eine Show. Es geht um Erregung.
SPIEGEL ONLINE: Kennen Sie die BBC-Serie "Black Mirror"? In einer Folge kandidiert die blaue Comicfigur Waldo, sehr wütend, unhöflich, jeden beleidigend und gegen das Establishment, für ein politisches Amt. Waldo gewinnt am Ende.
Penny: Ich mag diese Folge! Aber das Verrückte ist nicht nur, dass Waldo so viele Wählerstimmen bekommt. Sondern nach der Wahl einen totalitären Polizeistaat aufbaut.
SPIEGEL ONLINE: Die Folge wurde 2013 ausgestrahlt. Danach passierte Trump.
Penny: So funktionieren Menschen wie Trump, wie Comicfiguren bieten sie eine Art Ventil und täuschen vor, nichts wäre ernst, bis es dann ernst ist. Oft werden moderner Rassismus, Sexismus oder Homophobie als Witz gerechtfertigt, während sie absolut ernst gemeint sind.
SPIEGEL ONLINE: Gewalt und Rassismus nehmen extrem zu, gerade in den USA. Denken Sie, Charlottesville könnte ein Wendepunkt für die Alt-Right-Bewegung gewesen sein?
Penny: Charlottesville war definitiv ein Moment, in dem viele rechtsgeneigte Leute aufhörten, sich selbst zu belügen. Man konnte nicht mehr einfach sagen, das bisschen Wut, boys will be boys. Nein, es sind Nazis. Und sie haben einen Menschen umgebracht. Jetzt, da diese Bilder in der Welt sind, wurde manchen vielleicht bewusst, dass sie nicht die Rebellen sind, nicht die Guten.
SPIEGEL ONLINE: Donald Trump sprach von "Gewalt auf beiden Seiten" und von einer wachsenden Alt-Left-Bewegung. Was meint er damit?
Penny: Es gibt keine Alt-Left, das hat er sich ausgedacht. Und Alt-Right ist auch nur ein Codewort für eine weiße Übermacht. Der Begriff Alt-Left suggeriert, dass die extreme Rechte und die extreme Linke moralisch gleichwertig sind. Und das sind sie nicht. Sie sind nicht einfach unterschiedliche Perspektiven. Rassist sein und Rassismus bekämpfen sind keine moralisch gleichwertigen Perspektiven. Wir müssen aufhören, von einer Alt-Left zu reden.
SPIEGEL ONLINE: Sie haben vor einem Jahr Milo Yiannopoulos, den früheren Breitbart-Schreiber und Alt-Right-Posterboy, mit seiner Entourage auf seiner PR-Tour durch Amerika begleitet. Warum?
Penny: Milo interessiert mich, weil ich seine Entwicklung mitbekommen habe. Er ist in Großbritannien gescheitert und dann in die USA gezogen, um sich dort als Alt-Right-Superhero neu zu erfinden. Aber er ist kein wirklicher Star. Stars tragen keine Sonnenbrillen in Innenräumen und laufen mit so einer Entourage rum. Doch die Amerikaner nehmen vieles ernster als die Briten. Sie glauben Milo, aber er meint nichts von dem, was er sagt. Seine Agenda ist er selbst. Und er ist bereit, rassische Ideologien zu benutzen, um die eigene Karriere voranzutreiben. Nigel Farage oder Boris Johnson funktionieren ähnlich.
SPIEGEL ONLINE: Warum schenken Sie ihm Aufmerksamkeit?
Penny: Ich möchte wirklich wissen, was diese Leute denken. Was sie glauben, welche Rolle sie in dem Storyboard ihres Lebens spielen. Das beschreibe ich dann. Das ist meine Strategie, um sie zu stoppen. Ich schrieb Milo am Tag der Amtseinführung Donald Trumps eine SMS und fragte: Würdest du lieber für immer berühmt sein unter Hillary Clinton oder für immer Trump haben, aber ohne dass jemand deinen Namen kennt? Er antwortete: berühmt unter Hillary, natürlich.
SPIEGEL ONLINE: Vielleicht sollte man sich aus der Aufmerksamkeitsökonomie einfach ausklinken?
Penny: Für manche ist es schlichtweg keine Option, Schriftsteller, Personen des öffentlichen Lebens, die ihr Leben darüber bestreiten. Und auch die Politik ist Teil dieses Spiels um die größte Aufmerksamkeit. Natürlich kann man offline gehen, sich bei Twitter abmelden, in eine Hütte ohne Internet im Wald ziehen. Aber das würde nicht wirklich etwas verändern.
SPIEGEL ONLINE: Heißt das, wir sind verloren?
Penny: Nichts ist verloren! Die Alt-Right glaubt, Politik wäre ein Spiel, das man entweder verliert oder gewinnt. Dabei ist es wie im Fußball, der Tag, an dem es heißt, "Deutschland ist Weltmeister, für immer und ewig, das war es jetzt!" - der wird nie kommen. Es wird nie einen endgültigen Weltmeister geben.