Arbeit gilt als der beste Weg zur Selbstverwirklichung. Dafür sind wir sogar bereit, Überstunden anzuhäufen. Warum tun wir uns das an?
"Es liegt etwas Hässliches darin, für Arbeit bezahlt zu werden, die man nicht mag", schrieb die Schriftstellerin Anaïs Nin in ihrem Tagebuch. Das war 1941. Mehr als 70 Jahre später schreibt die Autorin Stefanie Sargnagel über eine Auftragsarbeit ganz ähnlich: "Wie für alle Texte, für die mir ausreichend Geld geboten wird, ist es etwas entsetzlich Sinnloses gewesen." Und weiter: "Etwas, bei dem ich mir schon während des Schreibens jeden Buchstaben aus dem Text wie Heftklammern in die Haut rammen will zur Selbstbestrafung, ein spitzes A direkt in die Augen, nur um den Dreck nie wieder lesen zu müssen, diese Art von Text, bei dem ich von jedem einzelnen Wort Würgereiz bekomme."
Karosserien am Fließband schweißen, Geschirr spülen, Steuern berechnen, Spargel stechen, eine Neurose behandeln, ein Kind erziehen, Texte schreiben: All das ist Arbeit. Ist diese Arbeit sinnvoll? Ist sie erfüllend? Stefanie Sargnagel beschreibt das Verhältnis von Sinn und Lohnarbeit wie eine Borderline-Störung. In ihrer satirischen Übertreibung lindert erst die Vorstellung der Selbstverletzung ihre negativen Gefühle. Dass Gefühle überhaupt eine Rolle spielen, wenn wir über Arbeit sprechen, dass Lohnarbeit als Weg zu Selbstverwirklichung und Sinnstiftung gilt, ist eine ziemlich neue Entwicklung.
Über Jahrhunderte waren die meisten Menschen zu beschäftigt mit ihrem eigenen Überleben, als dass sie sich hätten Sorgen machen können, ob sie eine aufregende Karriere hinlegen würden, in die sie all ihre Talente einbringen und mit der sie ihr eigenes Wohlbefinden verbessern könnten. Früher fühlten sich Nonnen und Pfarrer, vielleicht auch noch Ärzte, zu ihrer Tätigkeit berufen. Kutscher, Knechte und Kesselflicker? Eher nicht so. Heute wünschen sich jedoch sehr viele, dass ihr Beruf mehr ist als nur ein Broterwerb. In der Umfrage Generation What?, die unter jungen Europäern durchgeführt und im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, nannte rund die Hälfte der Befragten mit einem höheren Bildungsabschluss Selbstverwirklichung als wichtige Arbeitsmotivation.
Glück ist die neue Währung im Arbeitsalltag.Dieser Wunsch, sich selbst zu verwirklichen, sei genau das, was die heutigen Arbeitnehmer von ihren Vorgängern unterscheide, schreibt die Historikerin Sabine Donauer in ihrem Buch Faktor Freude. Sie hat untersucht, wie sich die Einstellung zum Beruf in den vergangenen hundert Jahren gewandelt hat. Sie sei immer emotionaler geworden, schreibt Donauer. Glück sei die neue Währung im Arbeitsalltag. Geld ist als Motivation hingegen unwichtiger geworden: Mehr als 70 Prozent würden laut einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung sogar bei einem sehr hohen Arbeitslosengeld lieber selber arbeiten wollen. Jeder zweite Befragte würde selbst dann nicht kündigen, wenn er morgen 15 Millionen Euro gewinnen würde.
Arbeit an sich hat einen Wert. Viele, die jeden Morgen ins Büro oder in die Werkhalle gehen, sei es bei einem mittelständischen Familienunternehmen, bei einem Start-up oder bei einem Konzern, sind überzeugt davon, mit ihrer Arbeit etwas bewirken zu können. Wir brauchen die Arbeit. Nicht nur, weil sie unser Überleben sichert, sondern weil wir sie oft tatsächlich als Glück bringend empfinden. Sie ermöglicht soziale Teilhabe, Wertschätzung und Anerkennung. Arbeit ist die Tätigkeit des Menschen, der seine Spuren hinterlassen will. Der Mensch ist eben ein Arbeitstier.
Der amerikanische Verhaltensökonom Dan Pink machte dazu eine interessante Beobachtung, von der er bei einem TED-Talk erzählte: In den 1940er Jahren brachte General Mills eine Backmischung heraus. Darin waren alle Zutaten enthalten. Der Kuchen gelang immer. Man musste fast nichts dafür tun. Trotzdem verkaufte sich die Mischung miserabel.
Dann entfernte General Mills die Eier und die Milch aus dem Pulver. Die Leute mussten nun die Eier extra aufschlagen und die Milch dazugießen - und die Backmischung wurde ein Erfolg. Mit der ursprünglichen Backmischung war das Backen so einfach, dass die Leute das Gefühl hatten, selbst gar nichts dafür geleistet zu haben. Es fühlte sich nicht an wie ihr Kuchen. Die Leute wollten arbeiten. Selbst dann, wenn es gar nicht nötig war.
Aus "Ich denke, also bin ich", dem Leitspruch der Aufklärung, wird "Ich arbeite, also bin ich". Die Arbeit wird zum Sinngeber. Und das ist auch ein Problem. Denn ein gutes Gefühl bei der Arbeit wird heute von vielen gegen geregelte Arbeitszeiten eingetauscht. Wer seine Arbeit als sinnvoll empfindet, macht freiwillig Überstunden. Verdächtig ist, wer nach acht Stunden Arbeit nach Hause geht. Hat der etwa keinen Spaß bei der Arbeit? Nie liefen die Arbeitszeiten so aus dem Ruder wie heute.
Gleichzeitig werden viele angetrieben von Angst, die Arbeit zu verlieren – und damit das Wichtigste in ihrem Leben. Forscher der Universität Zürich fanden heraus, dass rund ein Fünftel der eine Million Selbstmorde, die jährlich weltweit begangen werden, in Verbindung mit Arbeitslosigkeit stehen.
Wer seine Arbeit als sinnvoll empfindet, ist motivierter, leistungsfähiger, zufriedener, produktiver. Das ist nicht grundsätzlich schlecht. Man muss also per se nichts an dem Prinzip ändern, dass der Mensch durch seine Arbeit Sinn erfährt. Das Problem liegt woanders: Das Prinzip wird immer wieder missbraucht, um uns gefügig zu machen. Unternehmen tun so, als sei die Arbeit ein Akt des Vergnügens. Und die Angestellten tun so, als würden sie das glauben. Arbeit wird zum Lifestyle stilisiert. Die Leute stellen den Unternehmen nicht nur ihre Arbeitskraft, sondern ihre ganze Persönlichkeit zur Verfügung.
Der Selbstbetrug geht so: Wir werden nicht mehr körperlich ausgebeutet wie zur Jahrhundertwende die Fabrikarbeiter. Wir beuten uns heute selbst aus. Der Selbstbetrug geht so: Wir arbeiten nicht für die Firma! Wir arbeiten für uns! Und weil man sich im Job so gut entfalten kann, wird man allein in der Wohnung leicht depressiv und arbeitet dann auch mal am Sonntag.
Hinzu kommt, dass unsere Arbeit ungleich bewertet wird. Die sinnvollsten Jobs sind in unserer Gesellschaft oft am schlechtesten bezahlt. Denken wir an einen Unternehmensberater und eine Pflegerin. Das Gehalt der Pflegerin ist vergleichsweise niedrig. Aber wir alle wollen, dass unsere Alten gepflegt werden.
Philosophen wie Aristoteles oder Cicero fanden Arbeit nur würdig, wenn sie aus freien Stücken, unabhängig von anderen Menschen und nicht des Geldes wegen ausgeübt wurde. Menschen arbeiten lieber und besser, wenn es Arbeit ohne Zwang ist, wenn man intrinsisch motiviert an die Sache herangeht. Wer einmal ein eigenes Herzensprojekt beendet hat, weiß, wie erfüllend das ist. Auch Schriftstellerinnen wie Anaïs Nin und Stefanie Sargnagel schöpfen ihren Sinn aus dem Schreiben, also aus ihrer Arbeit. Nur ist es nicht immer die Lohnarbeit, die Arbeit für Geld.
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