Vor 50 Jahren hieß es: Türken, kommt! Nun sind sie alt – und brauchen Fürsorge. Die Lösung: Das einzige Seniorenhaus für Muslime
Hurmiye Ulusays Blick wandert über Obst und Gemüse. „Deutsch Banane, Türkisch Muz, Deutsch Gurke, Türkisch Hiyar...“, zählt sie auf, während sie mit dem Rollstuhl die Marktstände am Maybachufer entlangfährt. Bei der Mango stockt sie kurz und schaut den Verkäufer fragend an. „Mango“, sagt der, „auf Deutsch und Türkisch“. Hurmiye Ulusay lacht. Sie ist 68 Jahre alt, hat ein künstliches Hüftgelenk und einige Operationen hinter sich. Die Beine wärmt eine grüne Decke, um das schwarz-graue Haar trägt sie ein lilafarbenes Kopftuch. Hinter ihrer Brille strahlen braune Augen. Der Ausflug auf den Markt mit der Krankenschwester des Internationalen Pflegehauses Kreuzberg ist für sie eine Reise in die Vergangenheit. Hier kam sie 40 Jahre lang her, seit sie 1971 in Berlin ankam.
Jeden Dienstag und Freitag kaufte sie ein, im ersten Jahr nur Obst und Gemüse, weil sie nicht glaubte, dass deutsches Fleisch so gut wie türkisches wäre. Im zweiten Jahr traute sie sich in Berliner Fleischereien, machte vor der Theke „gok-gok“, spreizte die Arme, wenn sie Hähnchen kaufen wollte. Schüttelte den Kopf und sagte „oink-oink“, um klar zu machen: bloß kein Schweinefleisch! Ein kleines Theater war das manchmal. Auf dem türkischen Markt verstand sie jeder. Das Einkaufen war einfach. Bis es mit der Krankheit vor zwei Jahren losging.
Wie sie sind viele der ersten türkischen Gastarbeiter, die sich von 1961 bis 1973 um eine Arbeitserlaubnis bewarben, inzwischen im Rentenalter. Jeder elfte Rentner hat heute einen Migrationshintergrund, die meisten von ihnen einen türkischen. „Dass auch ältere Migranten gepflegt werden müssen, ist lange Zeit verdrängt worden“, sagt Oliver Razum, Professor an der gesundheitswissenschaftlichen Fakultät Bielefeld.
Das Internationale Pflegehaus Kreuzberg hat sich als einziges Heim deutschlandweit auf die Pflege von Menschen mit türkischem oder arabischem Migrationshintergrund spezialisiert. Es gibt 140 Betten, von denen 66 belegt sind, Gebetsräume gen Mekka, eine Teestube, rituelle Waschungen, Flachbildfernseher mit türkischen und arabischen Sendern und Fußwaschbecken in jedem Zimmer. Die vier Etagen heißen aufsteigend Ankara, Bitlis, Denizli und Berlin. Vor den Aufzügen versammeln sich die Senioren auf Bänken und Stühlen wie in einem Straßencafé, lauschen Arabesken, wehmütigen Liedern voller Sehnsucht und Liebe, und reden.
Der schlichte 70er-Jahre-Bau in der Methfesselstraße 43 ist das Zuhause von Frau Ulusay. Nur einige hundert Meter weiter, auf dem Flughafen Tempelhof, landete sie 1971 in Berlin. Ihre Heimatstadt Mugla in der westürkischen Provinz lässt sie, 28 Jahre jung, an diesem warmen Septembertag hinter sich. Der Inhaber einer Gebäudereinigungsfirma holt sie ab. Noch am selben Tag unterschreibt sie den Arbeitsvertrag.
Ihr Chef bringt die junge Frau ins Wohnheim, Paul-Linke-Ufer 43. Die Zeitungen nennen so einen Altbau, in dem Menschen wie Hurmiye wohnen, „Türkenhaus“. Sie wohnt in einer Drei-Zimmer-Wohnung mit elf Frauen und zwei Doppelstockbetten pro Zimmer. Das Gebäude liegt direkt gegenüber dem Markt am Maybachufer. Als Ulusay ihn 40 Jahre später besucht, erinnert sie sich, dass die Bäume, die heute laternenhoch das Ufer säumen, ihr damals gerade bis zur Hüfte reichten.
Die alte Frau ist geschieden, ihr Körper geschunden. Das Leben war, sagt sie: „Arbeiten, immer arbeiten.“ Sie kann sich nicht mehr selbst versorgen, Sohn Ismael und Tochter Melek leben in der Türkei. Vor knapp vier Monaten fasste sie deshalb den Entschluss, ins Kreuzberger Heim zu ziehen. Noch sieht ihr Zimmer kahl aus. Weiße Wände, ein Bett, weiße Bettwäsche. In einer Woche wird Ulusays alte Wohnung aufgelöst. Dann will sie ihre Kommode, die Moschee-Wanduhr und Fotoalben mit den Bildern von ihren Kindern holen.
„Das Neue ist“, sagt eine der Pflegerinnen, „dass die Kinder in der Türkei sind und die Alten hier. Die leben wirklich zwischen den Welten.“
Trotz Bitten der Kinder will Hurmiye Ulusay nicht zurück nach Mugla. Hier ist sie krankenversichert, besser versorgt, und hier spielt ihr Leben. Wenn sie auf den Markt geht, kommen alte Bekannte auf sie zu. Begrüßen sie mit dem typischen Handkuss. Führen Ulusays Hand erst zu den Lippen, dann zur Stirn. Merhaba, Guten Tag. Sie fragen nach ihrer neuen Adresse. Einige kennt sie seit vielen Jahren, ihre beste Freundin noch aus dem Türkenhaus.
Ulusay sitzt auf ihrem Bett und isst ein Radieschen. Die Pflegerin hat ihr eine Schale mit Äpfeln und Möhren vom Markt hingestellt. Einmal in der Woche nimmt Hurmiye nun mit anderen Frauen an türkischen Kochkursen teil. Dafür pflückt sie Weinblätter im Garten des Hauses, legt sie in Salzlake ein, füllt sie später mit Reis – und bereitet anderen Heimbewohnern Geburtstagsessen zu.
Wie zum Beispiel Nejlan Yoleri. Der 89-Jährige wohnt seit drei Jahren im Heim, auf demselben Flur wie Ulusay, drittes Stockwerk Denizli, Zimmer 321, etwa 20 Quadratmeter groß. Auf dem Tisch neben der Tür liegt ein Tavla- Spiel, eine Art türkisches Backgammon, davor stehen Bilder von seinem Sohn und seiner Frau. Über dem Bett hängen bunte Ponys, von seinen Enkelinnen gezeichnet. Yoleri trägt eine Brille, graues, lichtes Haar und eine graublaue Malerjacke. Jeden Tag fährt er mit dem Rollstuhl die vier Meter vom Bett zum Fenster hinter die Staffelei, sein kleines Atelier, und verbringt den größten Teil des Tages malend. Sachte zieht er den Pinsel mit der braunen Farbe über die Leinwand. Die Gedächtniskirche ist schon zu erkennen.
An der Wand hinter ihm hängen mehrere Bilder: die Straßen von Kadiköy neben dem Pariser Platz in Berlin, die Hagia Sophia in Istanbul und Sultansfrauen der osmanischen Dynastie. Bilder einer Einwanderungsbiografie. 1924 wird Necati Yoleri in Istanbul, im Viertel Kadiköy geboren. 1958, im Alter von 34 Jahren, kommt er nach Deutschland. Noch drei Jahre vor dem offiziellen Anwerbeabkommen mit der Türkei wirbt ihn die Zigaretten-Firma Reemtsma als Plakatmaler an. Er zieht nach Hamburg. Später nach Frankfurt, holt Frau und Sohn nach, arbeitet als Übersetzer und macht sich mit einer Baufirma selbstständig.
Als Yoleri altersschwach wird, den ersten, dann den zweiten Schlaganfall erleidet, drängt sein Sohn Tarek darauf, dass Vater und Mutter zu ihm nach Berlin ziehen. „Ich wollte meine Eltern in meiner Nähe haben, aber die Pflege schaffe ich nicht allein. Dafür braucht man Personal“, sagt der 52-Jährige.
Das Bild der türkischen Großfamilie, die die Pflege übernimmt, ist längst nicht mehr deckungsgleich mit der Realität. „Oft geht das gar nicht“, sagt Professor Oliver Razum. „Die Rolle der Frau hat sich gewandelt, die Kinder sind berufstätig, das familiäre Gefüge funktioniert nicht mehr wie vor 40 Jahren.“ Auch in der Türkei entstehen mittlerweile Altenheime und ambulante Pflegedienste. Traditionell geben Türken nach wie vor ihre Angehörigen nicht gerne ab, sie schämen sich, in der Familie, in der Gesellschaft, in der Moschee.
„Ich hätte meinen Vater auch in ein deutsches Heim gegeben, aber es ist doch schöner so“, sagt Yoleris Sohn. Das Klima sei vertrauter. Auf Türkisch könne er besser über seine Schmerzen und Wehwehchen reden. Necati Yoleri sitzt in seinem Zimmer, Kühlschrank und eine kleine Herdplatte darin, und pellt sich ein Ei. Der Weg zum Heim-Restaurant strengt ihn zu sehr an. Er findet es gut, dass dort „halal“ gekocht wird, dass heißt nach islamischen Regeln, und Gerichte wie Linsensuppe, gefüllte Auberginen oder pürierte Kichererbsen auf der Speisekarte stehen. Lieber sitzt er aber hinter seiner Staffelei. Er zieht einen zweiten braunen Farbstreifen über die Gedächtniskirche, spricht über sein Leben und von seinem Sohn, dem „Goldjungen“.
Auch Necati Yoleris Frau Nejla lebt in dem Kreuzberger Heim. Nur nicht in seinem Zimmer. Seit zwei Jahren liegt sie im Wachkoma, wird künstlich ernährt. Alle zwei Tage rollt Yoleri zum Aufzug, fährt ins zweite Stockwerk um Nejla zu besuchen, während die anderen Senioren in die Teestube gehen. Am Nachmittag ist es hier rappelvoll, dann sitzen um die 20 Männer an den Tischen. Sie schenken sich schwarzen Tee aus dem Samowar ein und spielen Tavla, so als wären sie in Kadiköy und nicht in Kreuzberg.