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Interview

Hou Hsiao-Hsien: Ohne Realismus sind alle Geschichten nichts

Ein Gespräch mit dem Filmregisseur Hou Hsiao-Hsien
Vom Zauber der Tang-Dynastie und der Notwendigkeit historischer Genauigkeit

Nach Wong Kar-wai, Zhang Yimou und Ang Lee haben auch Sie mit „The Assassin“ jetzt einen Film im Wuxia-Genre, dem beliebtesten der chinesischen Popkultur, gedreht. Was hat Sie daran gereizt?
Ich muss etwa elf Jahre alt gewesen sein, jedenfalls besuchte ich noch die Grundschule, als mein Bruder und ich anfingen, die alten chinesischen Wuxia- Romane zu lesen. Wir liehen die Bücher im Set aus der Bibliothek. Mich faszinier- te diese Welt der Schwertkämpfer, Söld- ner und allein umherziehenden Auftrags- killer. Später lass ich auch „Robinson Crusoe“ oder „Der Graf von Monte Christo“, aber die chinesischen Autoren ließen mich nicht los. Irgendwann stieß ich auf die „Chuanqi“, die Legenden aus der Tang-Dynastie, verfasst in Altchinesisch. Der Text ist eher kurz, nicht länger als tau- send Wörter, und so etwas wie die Ur- geschichte aller Wuxia-Erzählungen.
Und Sie warteten bis heute, daraus einen fast zweistündigen Film zu machen, an dem Sie sieben Jahre gearbeitet haben?
Noch als Erstsemester dachte ich, sobald ich beginne, in der Filmindustrie zu arbeiten, muss ich unbedingt etwas aus dem Stoff machen. Nach dem Abschluss an der Kunsthochschule in Taiwan habe ich kurz als Verkäufer gearbeitet, aber dann schnell als Regieassistent und Drehbuchautor. Mein erstes Skript war eine Adaption einer Erzählung aus der Tang-Dynastie, und auch mein zweites beschäftigte sich mit einer arrangierten Ehe in dieser Zeit. Vor ein paar Jahren wurden die Legenden neu verlegt, mit reichlich Anmerkungen und Kommentaren dazu, die mir sehr halfen, die Geschichten besser zu verstehen. Da dachte ich, nun ist die Zeit gekommen.
Allerdings könnten Sie Genrefans mit Ihrem Film enttäuschen.
Martial-Art-Fans gucken die Wuxia- Filme aus Hongkong, die Kultfilme von King Hu und der Shaw Brothers Company. Für mich ist es nicht interessant, die Gesetze der Schwerkraft zu ignorieren und meine Charaktere in einer irrsinni- gen Kung-Fu-Choreographie herumflie- gen zu lassen. Ich habe einen Film über eine Frau gedreht, die in einer alten chinesischen Militärstadt zur Attentäterin aus- gebildet wird. Dafür habe ich die Lebens- bedingungen und die historischen Hinter- gründe dieser Zeit studiert. Weil es kaum dokumentierte Spuren gibt, war das gar nicht so einfach die Legenden der Tang- Dynastie realistisch aufzuarbeiten.
Sie sagten einmal, Realismus im Film sei das Wichtigste für Sie.
Ich bin mehr an echten historischen Referenzen und Ereignissen interessiert. Von da ausgehend, können sich meine Gedanken entfalten. Ohne realistische Parameter wäre meine Vorstellungskraft völlig losgelöst, sie wäre so grenzenlos, dass sie nirgends anknüpfen könnte. Meine Gedan- ken würden im Nichts stochern. Wo wür- de ich dann beginnen, meine Charaktere zu entwickeln?
Warum entschieden Sie sich für eine Frau als Attentäter?
Es gab einfach viele weibliche Auftragskiller in der Zeit. Die Geschichte von Nie Yinniang reizte mich ganz besonders, weil sie als Kind von der Familie in ein taoistisches Kloster entfernt von der Heimat verschickt und dort als Mörderin aus- gebildet wird. Am Ende hat sie sogar die Kraft, sich in andere Gestalten zu verwan- deln. Aber das habe ich weggelassen.
Bei Ihnen ist sie eine einsame, herum- wandernde Heimatlose ohne Superkräfte. Das Motiv war Ihnen wichtiger?
Menschen sind doch im Grunde mit sich allein. Sie müssen sich, ob in der Tang- Dynastie oder heute in unseren modernen Gesellschaften, ständig selbst ins Gesicht schauen.
Alle Ihre Filme drehen sich um die Frage nach Identität und um ideologische Auseinandersetzungen. Letztlich sind es Heimatfilme. Wiederholen Sie immer auch eine persönliche Geschichte?
Ich kann ja nur von mir ausgehen. Meine Filme sind natürlich mit meiner Kindheit verbunden, damit, wie ich aufgewachsen bin, mit der Beziehung von China und Taiwan, dem Krieg. In „Stadt der Traurigkeit“ geht es um die Unruhen, als Taiwan zum Spielball zwischen Kommunisten und Nationalchinesen wird. Mein Vater stammt aus der südchinesischen Provinz Guangdong auf dem Festland. 1947, da war ich ein vier Monate altes Baby, flohen meine Eltern vor dem chinesischen Bürgerkrieg nach Taiwan. Aber für mich ist das nichts anderes als die Kriege der früheren Dynastien, der Han- oder der Tang-Dynastie. Das ist doch alles das Gleiche! Die Geschichte wiederholt sich.
Sie sind in Taiwan aufgewachsen. Fühlen Sie sich als Chinese oder Taiwaner?
Wenn ich die Frage geographisch beantworten müsste, würde ich sagen: beides. Aber in einem größeren Zusammenhang fühle ich mich chinesisch. Ich kann nichts machen, was nicht in Beziehung zu meiner chinesischen Kultur steht. Politisch gesehen, gibt es in Taiwan zwei große Parteien, die Kuomintang und die Fortschrittspartei DPP, die einen sind für die Wiedervereinigung, die anderen für mehr Unabhängigkeit. Aber für mich geht es darum, woher wir ursprünglich kommen. Das Wichtigste ist die Kultur, nicht die Territorien.
Sollte Kunst nicht auch politisch sein?
Im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen die Menschen, ihre Lebensumstände zu verschiedenen Zeiten, ihre Glaubens- sätze und warum sie vielleicht manchmal verrückt wirken. Aber ja, wenn sie eine Gruppe von Menschen haben, dann bringt das natürlich auch politische Diskussionen mit sich, egal ob diese Gruppe in der Tang-Dynastie angesiedelt ist oder in unserer heutigen Gesellschaft.
Sie schicken noch immer Geld in Ihre alte Heimat?
Das tue ich, in die Provinz Guangdong, wo ich geboren wurde. Ich gehöre zur 25. Generation unserer Familie. Das Geld ist für den Ahnentempel dort. Den dürfen sie sich aber nicht vorstellen wie heute die buddhistischen Tempel am Straßen- rand. Es ist eine alte Grabstätte des ers- ten Gouverneurs der Provinz. Ich halte diese Verbindung, weil sie mich wissen lässt, woher ich komme.
Die Fragen stellte Silke Weber.

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The Assassin – Das Martial-Arts-Meister- werk von Hou Hsiao-Hsien um eine Atten- täterin aus dem China des neunten Jahr- hunderts. (Kritik auf Seite 9.)