Alice Schwarzer, Deutschlands bekannteste Feministin, Jahrgang 1942, möchte sich im Pariser Café Le Select treffen. Ihre alte Mensa gibt es nicht mehr: Die Reform-Universität Vincennes, an der Schwarzer von 1970 an Politik und Psychologie studierte, wurde in den Achtzigern in den Vorort Saint-Denis verlegt. Ohnehin habe sie die meisten Mittagspausen im Select in Montparnasse verbracht - einem Café mit Gesims und einer alten Holztheke. Männer mit der Tageszeitung "Le Monde" unterm Arm betreten den Saal, andere lesen ein Buch am Tresen. Schwarzer möchte vorne links am Fenster sitzen. Ihr Stammplatz, sagt sie. Das Café hat den Ruf, Denker anzuziehen. Alice Schwarzer bestellt erst mal auf Französisch ein Glas Champagner. Der Kellner flitzt los, sie scheint in Feierlaune.
ZEIT Campus: Das Le Select war ein Ort der Pariser Intelligenzija, Hemingway, Picasso oder Fitzgerald verkehrten hier. Haben Sie sich das Café deswegen ausgesucht, um mit diesen Männern auf Augenhöhe zu sein?
Alice Schwarzer: Nein, nein! So schwach ist mein Selbstbewusstsein nicht. Männer waren in den Siebzigern auch nicht unsere Vorbilder. Frauenpower war angesagt. Außerdem war das lange vor meiner Zeit, in den zwanziger und dreißiger Jahren. Hier haben auch berühmte Frauen verkehrt - ein paar Häuser weiter ist Simone de Beauvoir aufgewachsen. Früher wohnte ich um die Ecke, in der Rue d'Alésia.
ZEIT Campus: Und haben hier im Le Select für die Uni gelernt.
Schwarzer: In Paris liest und schreibt man viel in Cafés, weil die Wohnungen hier oft so klein sind. Es war auch gar nicht so einfach, zur Uni zu kommen. Der damalige Kultusminister hatte meine 1970 gegründete Fakultät tief in den Wald von Vincennes gelegt, wohl in der Hoffnung, dass die protestierenden Studenten dann von der Straße weg sind.
ZEIT Campus: Sie studierten an der Reform-Universität Vincennes, der "roten Fakultät".
Schwarzer: Das war ein Zugeständnis von de Gaulle an die 68er-Bewegung. Alle kritischen Geister strömten dorthin. Vincennes war ein Experimentierfeld, eine Anti-Sorbonne! Und ich warf mich mit Verve hinein. Das passte zu meiner Arbeit. Ich hatte mich als Korrespondentin auf die sozialen und politischen Folgen von 1968 spezialisiert.
ZEIT Campus: Sie fingen mit 28 in Vincennes an. Warum so spät noch studieren?
Schwarzer: In Vincennes ließ man auch Studenten ohne Hochschulreife zu. Etwa ein Drittel waren wie ich berufstätig, die meisten ohne Abitur. Ich hatte mit 23 volontiert, war Reporterin bei der Hochglanz-Zeitschrift Film und Frau und dann Reporterin bei Pardon, als Nachfolgerin von Günter Wallraff. Von da aus bin ich als freie Korrespondentin nach Paris gegangen. Ich konnte es mir nie leisten, nicht zu arbeiten und nur zu studieren. In Vincennes konnte ich beides verbinden.
ZEIT Campus: Dort lehrten große linke französische Denker: Deleuze, Foucault, Guattari. Wie war das so an der "Anti-Sorbonne"?
Schwarzer: Ach, Foucault kam oft kaum zum Sprechen. Immer rief einer der Studenten dazwischen, meistens waren es die Maoisten: "Hey, Foucault, tu la ferme! Halt die Klappe! Du schwätzt nur. Lass uns lieber was tun!" Die Attitüde war: Alles Akademische kann in den Gully gekehrt werden, es zählt nur der Straßen- und der Arbeitskampf. In Vincennes wurde weniger studiert und mehr Revolution gemacht.
ZEIT Campus: Hat Ihnen das gefallen?
Schwarzer: Bedingt. Für meinen Geschmack wurden die Lehrenden etwas zu oft unterbrochen. Ich war ja nicht gekommen, um Rabatz zu machen. Ich war sehr wissensdurstig.
ZEIT Campus: Was lernten Sie bei Foucault?
Schwarzer: Ich hatte "Sexualität und Macht" bei ihm. Das waren neue, kühne Gedanken, die Diskussion um den Unterschied von biologischem Geschlecht und sexueller Identität. Durch Foucault wurde ich auch auf Robert Stoller aufmerksam, einen der großen Sexualwissenschaftler der Siebziger. Er prägte die Begriffe Sex und Gender, die später vom Postfeminismus übernommen wurden. Aber selbst die großen Geister ignorierten damals das Machtgefälle zwischen den Geschlechtern.
ZEIT Campus: Ihr Studium haben Sie nie abgeschlossen. Was hat Ihnen die Uni gebracht?
Schwarzer: Ich strebte keine Karriere an, für die man einen Abschluss brauchte, und es war eh nicht die Zeit der Abschlüsse. Mich hatte einfach das Studium an sich interessiert. Daraus ergaben sich Impulse. Mein Buch Der kleine Unterschied zum Beispiel wäre inhaltlich und methodisch ohne die Anregungen aus Vincennes so nicht denkbar gewesen.