Die Philosophin Martha Nussbaum erklärt, wie Rechtspopulisten Gefühle instrumentalisieren - und warum die Politik mehr Liebe braucht.
Diese Frau glaubt noch an eine bessere Welt: Die amerikanische Philosophin Martha Nussbaum gilt als eine der wichtigsten Denkerinnen unserer Zeit. Normalerweise lehrt sie als Professorin in Chicago, an diesem Tag ist sie für eine Vorlesung zu Gast in Göttingen. "Ich brauche erst mal einen starken Kaffee, der im Hotel war mir zu wässrig", sagt sie. Dann kann das Interview beginnen.
ZEIT CAMPUS: Frau Nussbaum, Sie behaupten, eine gerechte Gesellschaft brauche Liebe. Können Gefühle politisch sein?
Martha Nussbaum: Emotionen sind an sich nicht politisch. Aber eine gerechte Gesellschaft braucht Menschen, die sich mit starker Liebe für sie einsetzen, für gute Gesetze und gute Institutionen. Fehlen diese Menschen, geht alles in die Binsen.
ZEIT CAMPUS: Muss es gleich Liebe sein - was ist mit Toleranz, Respekt, Solidarität?
Nussbaum: Das ist viel zu abstrakt. Menschen müssen Liebe füreinander empfinden, um sich wirklich solidarisch miteinander zu zeigen. Nehmen wir das Beispiel Steuern. Wir akzeptieren sie nur, wenn wir auch emotional dahinterstehen.
ZEIT CAMPUS: Das heißt, wer Menschen erreichen will, sollte Emotionen für seine Zwecke nutzen?
Nussbaum: Martin Luther King hat es vorgemacht, als er seine berührende Rede über eine Welt ohne Rassismus hielt. Hätte er trocken gesagt: "Wir müssen auf der Grundlage von Gleichheit handeln, um Gerechtigkeit zu erzielen", hätte er nichts erreicht.
ZEIT CAMPUS: Viktor Orbán in Ungarn, Marine Le Pen in Frankreich, Frauke Petry in Deutschland - vor allem Rechtspopulisten versuchen, Menschen mit Gefühlen wie Angst oder Wut zu erreichen. Sind Emotionen in der Politik nicht gefährlich?
Sprechstunde bei
Professorin für Recht und Ethik an der University of Chicago.
Sie ist eine der bedeutendsten Philosophinnen der Gegenwart und Kyoto-Preisträgerin 2016.
Politische Emotionen: Warum Liebe für Gerechtigkeit wichtig ist Suhrkamp 2014
Nussbaum: Gerade die Deutschen mögen dazu tendieren, Emotionen in der Politik zu vermeiden, weil diese in ihrer Geschichte falsch eingesetzt wurden. Das ist sinnlos. Warum sollte man auf ein mächtiges Werkzeug verzichten, nur weil es für schlechte Zwecke instrumentalisiert wurde?
ZEIT CAMPUS: Mit Gefühlen kann man Wahlen gewinnen. Aber auch gute Politik machen?
Nussbaum: Emotionen beinhalten Gedanken. Davon gehen die meisten Philosophen aus, die sich mit ihnen befassen. Ich kann keine Angst empfinden, ohne zu denken, dass mir etwas Schlimmes zustoßen könnte. Natürlich gibt es gute und schlechte Gedanken, und manche sind irrational.
ZEIT CAMPUS: Gibt es demnach auch gute und schlechte Emotionen?
Nussbaum: Emotionen sind nicht entweder gut oder schlecht. Wenn Sie nur Ihre Familie lieben, ist das nicht besonders gut. Es ist leicht, die eigenen Kinder zu lieben. Aber Fremde? Mit denen man das eigene Geld teilen soll? Doch genau diese Liebe muss politisch gefördert werden. Mit dem Mitgefühl haben wir das gleiche Problem: Die meisten empfinden es nur für jemanden, der ihnen nahesteht. Entscheidend ist also der richtige Gebrauch von Emotionen.
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