Straßenkind in Berlin Mit 13 lief Toni weg. Jetzt ist sie 19 - und noch immer unterwegs. Das ist ihre Geschichte
von Silke Müller
Toni ist Profi-Schnorrerin, Asphaltprinzessin, Überlebende. Sie war 13, als sie von zu Hause weglief, heute ist sie 19 und nirgends angekommen. Das Porträt einer jungen Frau, für die nur das Heute zählt.
Kein Hartz IV mehr, keine Kippen, kein Schlafplatz für die Nacht. Schlimmer kann's doch gar nicht werden, sagt Toni, 19, und verzichtet auf das angebotene Frühstück. An diesem Morgen, daran lässt sie keinen Zweifel, braucht sie vor allem eins: neue Fingernägel. Lang, pink und mit Glitzer.
Es ist Freitag, der 9. Oktober. Am Tag zuvor wurde Berlin zum Risikogebiet erklärt. Für Toni war es das schon immer. Das Virus ist einfach ein weiterer Stressfaktor in ihrem Leben, das nur aus Ausnahmesituationen zu bestehen scheint. Wir gehen vom Bahnhof Schöneweide zum Nagelstudio. Eine Stunde lang muss Toni still sitzen. Zeit für ein Gespräch.
Doch was Toni sagt, ist kaum zu sortieren. Beef mit Mama. Nikotinschock. Unterleibsschmerzen. Prozess. Gefängnis. Angst. Was folgt auf was? Wie dringend sind welche Probleme? Seit wann gibt es sie? Immerhin redet Toni. Mit mir - und mit ihrem Telefon. Gleichzeitig. Gedanken werden gesprochen und gesendet. Lieder lippensynchron mitgesungen und auf Tiktok gepostet. Dann ist Toni erschöpft. Der Kopf sinkt seitlich auf den Arm, der noch immer fest im Griff der Nagelstylistin liegt.
Toni ist Profi-Schnorrerin. Asphaltprinzessin. Überlebende. Sie selbst nennt sich: Ballerina. Weil sie gern tanzt. Und weil sie sich manchmal wegballert. In wackligen Buchstaben steht das Wort auf ihrem linken Unterarm, selbst gestochen. Eine Verletzung, die sie mit Stolz trägt. Darunter sind Schnitte zu erkennen. Von den Ellenbogen abwärts: Verwüstungen. Die Haut geritzt, markiert, tätowiert. Farbpunkte hier und dort, ein B für Barny, ihren Hund, ein L für - was noch mal? Vergessen. Da war ich voll. Auf der Schulter ein Branding, von einem heißen Kronkorken. Haben damals alle in der Clique gemacht. Tut immer noch weh.
Ich bin kein typisches Straßenkind, sagt Toni. Ich stinke nicht, ich bin geschminkt. Ich kann keine Menschen anschreien. Ich kann nicht zuhauen. Große Fresse schieben kann ich schon. Ein- oder zweimal im Jahr raste ich aus.
Soziologen nennen Menschen wie Toni Sofa-Hopper. Oder: entkoppelter junger Mensch. 40.000 minderjährige Straßenkinder und junge volljährige Obdachlose soll es in Deutschland geben, schätzt das Deutsche Jugendinstitut.
Berlin ist die Hauptstadt der Straßenkinder. Mehrere Hundert Jugendliche, genauer kann es niemand sagen, suchen hier nach Schlafplätzen, betteln um Essen und Geld, feiern, chillen, nicht wenige schmieren ab. Kids, die nicht nach Hause können oder wollen; Kids, die nie ein Zuhause hatten. Und die den zweiten Lockdown jetzt im freien Fall erleben.
Corona schränkt die Möglichkeiten der Streetworker einRechtlich gesehen dürfte es keine allein lebenden Kinder und Jugendlichen ohne Obdach geben. Minderjährige sind entweder zusammen mit ihren Eltern obdachlos und müssen über die soziale Wohnhilfe untergebracht werden, sagt Iris Brennberger von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie. Oder sie sind aus Kinderschutzgründen in Obhut zu nehmen, wie es das achte Sozialgesetzbuch vorsieht.
Toni liest nicht im achten Sozialgesetzbuch. Sie liest gern Krimis von Sebastian Fitzek. Oder Bücher wie die Geschichte vom Hundertjährigen, der aus dem Fenster stieg und verschwand. Sie selbst wollte allerdings nicht so lange warten mit dem Abhauen.
Zum ersten Mal habe ich Toni Anfang September in der Anlaufstelle des Vereins Straßenkinder e.V. im Bezirk Friedrichshain getroffen. Früher, sagt Streetworkerin Vici, 36, war das hier das Wohnzimmer der Straße. Ein winziges Ladenlokal, wochentags ab mittags geöffnet, pickepackevoll. Corona vereinzelt: Im Herbst 2020 dürfen nur noch jeweils zwei Leute für 15 Minuten rein. Händewaschen, Toilette benutzen, Post abholen. Was geht ab? Was steht an? Heiße Tasse, warme Jacke und tschüs. Das ist hart. Auch für die fünf Streetworkerinnen und Sozialarbeiter, die beiden Praktikanten, die eine Aushilfe.
Zweimal pro Woche fahren sie mit einem gespendeten Bus auf den Alexanderplatz und teilen Essen an Jugendliche aus. So hat es vor rund 20 Jahren angefangen, als Vereinsgründer Eckhard Baumann nach Feierabend Thermobehälter mit Tee und Suppe in seinen Fiat Punto packte und zu den Ausreißern brachte, die am Breitscheidplatz abhingen. Heute betreibt der Verein eine Einrichtung für Kinder im Brennpunktviertel Marzahn und plant, ein eigenes Haus für Straßenkinder zu errichten. Es wäre der erste Ort in der Stadt, an dem die Kids mehr bekämen als Essen, Kleidung, eine Dusche und ein Notbett. In diesem Haus würden Streetworker langfristige Beziehungen zu den Kindern knüpfen, mit Geduld und Gespür herausfinden, wie eine Resozialisierung klappen könnte.
Betreute Wohneinheiten im Haus sollen den nächsten Schritt ermöglichen: zurück unter ein festes Dach, in eine zugewandte Gemeinschaft, mit pädagogischer Begleitung, die über äußere Klippen und persönliche Tiefpunkte hinweghilft. Wenn alles gut läuft, und Vereinsgründer Baumann hat das oft erlebt, dann gelingt den Jugendlichen der Weg in ein stabiles Leben, dann holen sie Schulabschlüsse nach, machen Ausbildungen, etablieren sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Auch Ehen kamen so schon zustande.
Ihr Brautkleid hat Toni seit Langem vor Augen: weiß, mit Herzausschnitt und kurzem, gebauschtem Tüllröckchen. Der Rest ist eher - kompliziert. Toni ist immer kurz davor, etwas zu schaffen. Schafft es dann doch nicht. Und auf doch nicht folgt der Absturz. Ein Mädchen wie Quecksilber. Nicht zu fassen. Immer unterwegs. Immer mit Ausrufezeichen.
In Tonis Leben ist wenig von DauerDie Nacht verbringt sie jetzt, mit schicken langen Krallen, bei einem Freund. A., ihre neue große Liebe. Ein Ex-Ex. Tonis Instagram-Storys sind mit Herzchen gespickt. Ich liebe dich. Ich lass dich nicht noch mal gehen. Du bist mein Herzschlag. Toni sieht glücklich aus.
Einige Tage später meldet sie sich aus einer mittelgroßen Stadt in Mecklenburg.
Mit dem Regionalexpress fahren Streetworkerin Vici und ich in den Norden. Unterwegs Dauerkontakt mit Toni. Wo seid ihr? Wann kommt ihr? Seid ihr immer noch im Zug? Schließlich stehen wir in einer Plattenbausiedlung am Rande der Stadt. Ganz oben aus einem Fenster winkt Toni.
Unten am Briefkasten steht ihr Name. Das Amt zahlt. Toni nicht. Deshalb gibt es keinen Strom. Gestern hat sie gebadet, das warme Wasser funktioniert noch. Nun steht es kalt in der Wanne. Ihre Gedanken hat Toni auf die Kacheln geschrieben: Du & ich für immer. Ich möchte mit Dir meine Zukunft verbringen. Ich bleibe immer bei Dir.
Gemeint ist nicht A. Jetzt geht es um S. Er ist der Grund, warum Toni im Frühjahr diese Wohnung bezogen hat. Wenn sie etwas wirklich will, weiß sie, wie sie es bekommt. Aber nichts ist von Dauer: keine Verträge, keine Anordnungen, keine Verbindungen, keine Pläne. Jetzt heißt der große Diktator. Jetzt braucht Tabak, Jetzt braucht Essen, Jetzt braucht neue Nägel, ein Handy, eine Mütze mit Fellbommel. Heute Abend hat nichts zu sagen. Und morgen? Schönen Tag noch.
S. ist der Vater eines Kindes, das Toni vor einem Jahr zur Welt gebracht hat. Auch er ist ein Ex. Und nun der neue Ex-Ex. Auf der Wand im Hausflur hat er eine Nachricht hinterlassen: My wife.♥. Für immer.
Toni ist in diese Wohnung zurückgekehrt, nach Wochen in Berlin. Das Amt in der Kreisstadt will, dass sie den Hauptschulabschluss nachholt, sonst werden die 388 Euro vom Amt gekürzt. Vici bringt ihr einen Stoffbeutel mit Regenbogen und Einhorn mit, darin ein Schreibblock, Stifte. Eine Schultüte. Gestern war Montag, ihr erster Schultag. Und auch der letzte. Mama hat Liebeskummer, sagt Toni. Ich soll zurück nach Berlin kommen. Sie stopft Klamotten in zwei Taschen und ruft S. an: Hey, mein Engel, könntest du meine Ratte füttern? Adieu, Kreisstadt. Auf nach Berlin. Wieder einmal.
Dramaqueen, sagt Vici. Seit zwei Jahren kennt sie Toni. Schüchtern sei sie gewesen, zu Anfang. Kam erst zum Bus auf dem Alex, Essen abholen. Hing dann in der Streetworkstatt an der Warschauer ab. Hat nie was gesagt. Dann wurde sie schwanger, mit 17. Und überwand sich, Vici einzuweihen. So etwas ist immer ein großer Moment, sagt Vici. Wenn sich jemand öffnet. Eine Chance.
"Meine Mama ist ganz wichtig für mich"Das Tempo ist entscheidend, sagt Eckhard Baumann. Und meint damit das Gegenteil von schnell. Man muss sensibel sein, sich an Ziele herantasten, damit niemand abbricht. Das funktioniert nur über eine gute Beziehung. Vici ist Tonis gute Beziehung. Und wie es scheint: die einzige.
Auf der Rückfahrt nach Berlin hält Toni es kaum auf dem Sitz aus. Sie ruft Mama an. Hast du Lieblingsblumen? Zehn Euro hat sie für Blumen reserviert. Am Zugautomaten zieht sie Schokoriegel und Beef Jerky. Das mag Mama. Sie freut sich auf Mama. In Berlin schläft sie bei Mama im Doppelbett. Mama, welche Spiele hast du?, fragt sie. Immer, wenn ich Druck ablassen will, töte ich irgendwelche Zombies. Meine Mama ist ganz wichtig für mich. Wenn sie stirbt, will ich auch sterben. Warum? Weil sie immer für mich da ist.
Sie holt Block und Stifte aus der Regenbogen-Einhorn-Tasche, und schreibt einen Brief. Liebe Mama, ich wollte dir mal was sagen. Du bist eine Kämpferin eine Löwin. Die beste Mama.♥ ich liebe Dich über alles♥ ich danke dir für alles♥ wir lieben dich.
F. & ich♥
F. ist Tonis Sohn. Am 20. November wird er ein Jahr alt. Zum Geburtstag will sie ihm einen Jogginganzug von Nike und schwarze Baby-Sneaker schenken. Und einen Kuschelotter, auf dem er gut einschlafen kann. Kostet 100 Euro, aber ist mir egal. Ist mein Kind.
Als dieses Kind auf die Welt kam, war Toni gerade mal wieder in Berlin. Monatelang lebte sie auf der Straße, machte Platte, ein Baby im Bauch. Auf dem Alexanderplatz spürte sie, dass sie Wasser verlor. Sie rief Vici an. Am Frankfurter Tor platzte die Fruchtblase. Die beiden schafften es in die Streetworkstatt, im Krankenwagen fuhr Vici mit.
Toni zeigt ein Foto auf ihrem Handy: Gruppenbild auf der Entbindungsstation. In der Mitte Toni, mit dem neugeborenen F. im Arm. Am Bett stehen ihre Mutter und Vici. Die beiden strahlen.
Toni schaut das Bild an, klickt es weg. Ich lag im Krankenhaus mit dem Kleinen im Arm und dachte: Fuck, was machste jetzt? Ich konnte es nicht aushalten, weil ich wusste: Der ist weg.
F. musste damals im Krankenhaus bleiben, er war sechs Wochen zu früh gekommen. Toni entließ sich selbst. Ich bin dann noch mal hingefahren, habe ihn auf die Brust gelegt, ihm gesagt, Mama liebt dich, ihm einen Kuss gegeben, dann kam die Frau und nahm ihn mit.
Drei Monate später gab es ein Gespräch mit dem Jugendamt darüber, wie es weitergehen sollte. Der Vater sah seinen Sohn zum ersten, Toni sah ihn zum letzten Mal. Er ist nun bei Pflegeeltern.
Damals weinte Toni. Heute erzählt sie es so, als sei es einem anderen Menschen passiert. Auch, wenn sie keinen Schlafplatz hat, ihr Geld alle, ihr Handy mal wieder kaputt ist, gibt es keine Tränen. Zumindest nicht vor mir.
S. plant, sich den Namen des Kindes auf den Arm tätowieren zu lassen.Auch Toni trägt ihr Leben auf der Haut. Vom Schambein bis zum Brustbein zieht sich ein Schnitt, ungefähr so, wie ihn die Rechtsmediziner im Tatort setzen. Aber Toni hat überlebt. Unter den bauchfreien Tops, die sie auch noch Anfang November bevorzugt, blitzt die Narbe wie die Trophäe einer gewonnenen Schlacht hervor.
Die schwere Krankheit in Tonis Kindheit verlangt ihrem Umfeld viel abToni war acht Jahre alt, als die Ärzte den Krebs entdeckten. Wir sitzen immer noch im Regionalexpress. Toni ruft Mama an, um die genauen Diagnosen von damals abzufragen. Sie wiederholt: Muttertumor im Bauch, hat bis in die Lunge gestreut. Ein Nierensarkom. Ein Lebersarkom. In der Milz war auch was. Metastasen in der Lunge und in der Hauptschlagader in der Leistengegend. Das haben sie erst bei der achtstündigen OP entdeckt.
Toni erinnert sich: Weggeklappt, aufgewacht, Schlauch im Hals gehabt. Was normalerweise hinten rauskam, kam aus dem Mund. Mein Magen hat sich einfach umgedreht.
Zwei Jahre verbringt sie mehr oder weniger im Krankenhaus. Es sind Jahre, in denen sie maximale Aufmerksamkeit benötigt und anscheinend auch bekommt. Danach ist der Vorrat an Zuwendung erschöpft. Zumindest in ihrem engsten Umfeld.
Die Mutter war 17 und lebte in Eberswalde, als Toni zur Welt kam. Zwei oder drei Jahre später zogen sie nach Berlin. Als Toni vier war, ging der Vater. Bis ich acht war, war eigentlich alles ganz gut, sagt sie. Und nicht zum ersten Mal steht die Frage im Raum, wie es eigentlich wieder gut werden könnte. Und was gut eigentlich genau bedeutet - für Toni, aber auch für den Rest der Welt. Ich bin ein sprunghafter Mensch, sagt sie. Maßstäbe, Dringlichkeiten, Zu- und Abneigungen, alles kariolt durcheinander.
Als Toni zehn Jahre alt ist, findet die Mutter eine neue Liebe. Die wollte Papas Rolle übernehmen, sagt Toni. Mit zwölf schaltet sie ab. Falsche Freunde, kiffen, feiern. Mit 13 läuft sie davon. Von da an trifft man sie auf dem Alexanderplatz.
Es beginnt eine Odyssee durch betreute Wohngemeinschaften und Wohnheime. Toni hält sich an keine Regeln, fliegt raus oder verschwindet nach zwei, drei Tagen. Das System nimmt sie auf, versucht, sie zu therapieren, spuckt sie aus. Und Toni: sprengt alle Rahmen, alle Fesseln, jede Ordnung.
Es gibt ein Toni-Ich, das sich von Zufällen getriggert durch die Welt bewegt. Wie Pac-Man in dem legendären Videospiel eilt dieses Toni-Ich scheinbar erratisch umher, verfolgt von diversen Gespenstern. Trifft es auf einen Widerstand, biegt es ab. Das Handlungsfeld ist klein, Pac-Man bewegt sich in Schleifen. Ab und zu schluckt er eine Kraftpille. Dann besiegt er ein Gespenst. Aber die Gespenster schlagen zurück. Und werden immer schneller.
Der erste Reflex bei Schwierigkeiten: wegrennen.Toni sucht ein Foto auf ihrem Handy. Sie mit 16. Ein niedliches Mädchen, unauffällig. Heute besitzt sie auf eine gebrochene Art Persönlichkeit. Und einen unverwechselbaren Look. Sie kann auftreten. Als sie nach dem Besuch bei ihrer Mutter auf dem Alexanderplatz erscheint, entsteht ein Raum um sie herum, der sie größer, stärker, schöner erscheinen lässt. Ihr grün gefärbtes Zöpfchen auf dem Kopf leuchtet wie ein Signal aus der trüben, grau-schwarzen Masse der Herbstjacken. Doch diese Kraft verschwindet wie ausgeknipst. Dann muss sie plötzlich weg.
Ein paar Tage später taucht sie wieder auf, als es eng wird.Ein Gerichtstermin wegen wiederholten Schwarzfahrens steht an, morgen, in der Kreisstadt. Toni hat schon mehrfach Verhandlungstermine geschwänzt, nun droht ein Sicherungshaftbefehl.
Weil Vici im Urlaub ist, übernimmt eine Kollegin vom Straßenkinder-Team. Tonis Reflexe sagen: abhauen. Vicis Kollegin sagt: Unbedingt hingehen, wir begleiten dich. Dann kommst du vielleicht noch einmal mit Sozialstunden davon.
Zum zweiten Mal fahren wir in die mittelgroße Stadt im Norden. Toni will vor Gericht einen guten Eindruck machen. Sie trägt Sandalen mit Absatz, einen Rock, eine weiße Bluse. Über den Fersen leuchten Minnie Mäuse auf den Strümpfen. Aber die wird der Richter ja erst sehen, wenn sie den Saal wieder verlässt.
Weil wir zeitig da sind, machen wir einen Abstecher in die Wohnung. Der Schlüssel liegt im Briefkasten. Da, wo sie ihn für S. deponiert hatte. Das Einzimmerapartment wirkt unverändert, das Wasser steht noch in der Wanne. Nur Habibi, die Ratte, ist verschwunden. Ihr Futter im Napf verschimmelt. Toni packt die Panik.
Da ist diese große Sehnsucht nach Aufmerksamkeit und Geborgenheit, nach Familie. Aber wie könnte die aussehen, jenseits der Straßenkinderfamilie?
Freund, Hund, Toni?
Mama, Toni, Sohn F.?
Jetzt und hier im Raum steht Toni. Und noch nicht einmal die Ratte hat auf sie gewartet.
Toni stellt ein Schälchen mit Wasser und Futter hin, öffnet das Fenster und zieht die Tür hinter sich zu. Auf dem Sofa verbleiben: Rechnungen, Mahnungen, eine neue Vorladung in einer anderen Sache. Eine Bombe mit brennender Lunte.
An der Bushaltestelle lädt Toni Tiktok-Videos hoch. Lippensynchron singt sie Lieblingslieder mit und lässt die Hände vor der Kamera tänzeln. Auf den letzten Metern zum Amtsgericht singt sie den neuen Song des Berliner Rappers Kool Savas. Ob er weiß, dass er ihn für sie geschrieben hat?
AMG bedeutet An mich glauben/Denn ich geh 'nen Weg, den sie nicht verstehen/ Heute sehen sie mich mit andern Augen/ Wollte ihnen gefallen, doch nie wie sie sein/ Lief jahrelang in den gleichen alten Nikes/ Jetzt roll ich an ihnen vorbei, vorbei, vorbei.
Für manche Straßenkinder ist ein Haftbefehl impulsgebend für eine VeränderungDer Jugendgerichtshelfer trägt mit knappen Sätzen Tonis Geschichte vor, diese Abfolge von Katastrophen, von denen jede einzelne reichen würde, einen Menschen aus der Bahn zu werfen. Die Staatsanwältin äußert Mitgefühl, der Richter weiß, dass sowieso nichts zu holen ist. Wenn Toni innerhalb von drei Monaten 20 Sozialstunden ableistet, wird das Verfahren eingestellt.
Madame, da hast du mal wieder Glück gehabt, sagt Vici später. Und weiß, dass die 20 Stunden für Toni eine kaum zu stemmende Aufgabe sind. Da muss sie jetzt durch, sagt Vici. Und wenn es nicht klappt? Dann gibt es einen Haftbefehl. Für manche, sagt Vici, hat das einen guten Effekt, die kommen da geläutert wieder raus. Hält aber nicht bei allen an.
Da ist ganz viel emotionale Manipulation im Spiel, sagt Vici über Toni. Auch sie muss sich abgrenzen - und geht doch weit über das hinaus, was eine Streetworkerin für jedes Straßenkind leisten kann. Wie eine große Schwester wirkt sie, wenn sie mit Toni unterwegs ist. Die beiden sticheln, lachen, klären Probleme. Toni fordert, nimmt, verliert. Handys, Taschen, Schuhe, Fahrkarten. Vici überlegt sich, wie sie die Prinzessin wieder einfängt.
Im geplanten Straßenkinderhaus würde Toni sofort einen Platz bekommen. Schon jetzt wirkt sie manchmal, als gehöre sie mehr zum Team als zu den Klienten. Sie kennt den Verein, sie kennt die Regeln. Auch wenn sie manche bricht. Sie weiß, dass sie sich auf Vici verlassen kann, auf Vici und ihr Team. Heute und auch morgen. Nur sagt ihr das gerade wieder mal nichts: dieses verflixte morgen.
Erschienen in stern 48/2020