Am 11. Juli jährt sich zum 24. Mal das größte europäische Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In diesem Jahr werden weitere 33 Opfer in der Gedenkstätte im nahe gelegenen Dorf Potočari beigesetzt. Ihre Überreste wurden im vergangenen Jahr identifiziert. Wie es damals überhaupt zum Völkermord in Srebrenica kommen konnte und warum die Wunden im Jahr 2019 noch immer nicht verheilt sind, erklären wir unseren Leser*innen in diesem Artikel.
„Durch tägliche, geplante und überlegte Kampfaktionen gilt es eine Atmosphäre der totalen Unsicherheit, der Unerträglichkeit und Aussichtslosigkeit auf eine weitere Existenz und Leben in Srebrenica zu schaffen". Diese Anordnung vom damaligen bosnisch-serbischen Präsidenten Radovan Karadžić scheint aus heutiger Sicht nur ein kleiner Vorgeschmack auf die später tatsächlich folgenden erbarmungslosen Kriegsverbrechen in der Stadt Srebrenica zu sein. Der vorsätzliche Massenmord an 8.000 männlichen Bosniern, die Vertreibung der restlichen Einwohner*innen, Folter und zahlreiche Vergewaltigungen zählen zu den Gräueltaten, die die Stadt in Bosnien niemals vergessen wird. Der Genozid, der sich dort im Juli 1995 zugetragen hat, gilt als einer der absoluten Tiefpunkte der Jugoslawienkriege und wird als das größte europäische Kriegsverbrechen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs betrachtet.
Das ehemalige Jugoslawien charakterisierte insbesondere die Tatsache, dass verschiedene ethnische und religiöse Gruppen, wie orthodoxe Serb*innen, katholische Kroat*innen oder muslimische Bosnier*innen, für einen langen Zeitraum friedlich koexistieren konnten. Nationalistische Strömungen gab es zwar schon vor den Jugoslawienkriegen, nur konnte diese zu Lebzeiten des damaligen kommunistischen Staatschef Josip Broz Tito nicht weiter ausarten. Zu Beginn der 1990er Jahre, ein Jahrzehnt nach seinem Tod, begann schließlich der Zerfall des Vielvölkerstaats. Slowenien. Kroatien, Mazedonien, sowie Bosnien und Herzegowina forderten volle Unabhängigkeit. Die Hauptstadt Belgrad versuchte diese Unabhängigkeitsbewegungen mit Hilfe der Jugoslawischen Volksarmee zu verhindern. Innerhalb der verschiedenen Volksgruppen wurde der Geist des Nationalismus gemeinsam mit der zunehmenden Unzufriedenheit der Bürger*innen immer präsenter. Politiker*innen nutzten die Gunst der Stunde für ihre eigene Machtgier und setzten 1991 den Startschuss für das Blutvergießen.
Am 11. Juli 1995 nahmen bosnisch-serbische Einheiten unter Militärchef Ratko Mladić, die in Bosnien liegende Stadt, Srebrenica ein. Nach dem Einmarsch in die eigentliche UNO-Schutzzone, in der sich überwiegend muslimische Bosnier*innen befanden, wurden zwischen dem 12. und 17. Juli 1995 bis zu 8.000 Männer und Jungen systematisch ermordet. Die bosnisch-serbischen Milizen trennten diese gleich zu Beginn des Genozides vom Rest der Stadtbewohner*innen, um anschließend die lange vorher geplanten Massenexekutionen in den umliegenden Wäldern durchzuführen. Ohne zu wissen, welches Schicksal die von ihnen getrennten Männer und Jungen erwarten würde, wurden die Frauen und die restlichen Kinder aus der Stadt deportiert. Zig Leichenteile der Stadtbewohner wurden in den umliegenden Hügeln auf verschiedene Massengräber verteilt, um die spätere Identifikation der Personen zu erschweren. Ungefähr 1.000 Männer und Jungen gelten heute noch als vermisst. Viele Angehörige sind daher nach wie vor auf der Suche nach den Überresten ihrer Familienmitglieder, um sie ihrem Glauben nach beerdigen zu können und endlich Abschied zu nehmen.
Radovan Karadžić, der damalige Präsident der serbischen Teilrepublik in Bosnien, plante und steuerte gemeinsam mit Ratko Mladić, dem damaligen Oberbefehlshaber der bosnisch-serbischen Armee, die sogenannte „ethnische Säuberung" in Bosnien. Um einen "großserbischen Staat" errichten zu können, sollten bosnische und kroatische Volksangehörige aus jenen Gebieten, in welchen überwiegend serbische Volksangehörige lebten, vertrieben werden. Unterstützt wurden sie dabei von der serbischen Republik unter dem damaligen Präsident Slobodan Milošević. Vertreibungen von unerwünschten ethnischen Gruppen durch Brandstiftung, Folter und Exekutionen standen an der Tagesordnung. In Bosnien wurden außerdem mindestens 25.000 muslimische Frauen systematisch vergewaltigt, darunter zahlreiche Frauen aus Srebrenica. Zeuginnen erzählten von Einzel-, Gruppen und Dauervergewaltigungen durch Soldaten, Wächter und Polizisten. Die Vergewaltigung der Frauen wurde bewusst als Werkzeug für die sogenannte „ethnischen Säuberung" verwendet, da die Opfer laut dieser Ideologie nun auch „serbisches Blut" an ihre Nachkommen weitergeben würden. Ein weiterer Hintergedanke dieser Strategie war die zusätzliche Demütigung der bosnischen Männer, da sich in patriarchalen Gesellschaften, wie dem ehemaligen Jugoslawien, die Männer für die Sicherheit und „Ehre" der Frauen verantwortlich fühlten. Nach Kriegsende kam es aufgrund der Vergewaltigungen zu zahlreichen Scheidungen. Bis heute trauen sich viele betroffene Frauen nicht in ihre Heimat zurück, da der offene Umgang mit sexueller Gewalt am Balkan noch immer ein Tabuthema ist.
Die Tatsache, dass die Stadt Srebrenica zur Zufluchtsstätte für bosnische Muslime aus umliegenden Dörfern wurde, machte sie auf Seiten der bosnisch-serbischen Soldaten zur idealen Zielscheibe für einen Angriff. Die Vereinten Nationen hatten das Gebiet zwar zur Schutzzone, in der niederländische Blauhelmsoldaten für die Sicherheit der Bewohner*innen sorgen sollten, erklärt, allerdings leisteten diese schlussendlich keinen Widerstand. Die UN-Soldaten sollen sogar die Menschen, die ihre Hilfe suchten, an Ratko Mladićs Soldaten ausgeliefert haben, da sie nur mit leichten Waffen ausgerüstet gewesen waren und sich selbst schützen wollten. Für den tatsächlichen Schutz der Einwohner*innen wären gut ausgebildete Kampftruppen von Nöten gewesen. Das Kontingent von 450 Blauhelmen und deren Ausrüstung wurde nicht verstärkt, obwohl der UN-Sicherheitsrat von dem Angriff wusste. In diesem Zusammenhang sprechen viele Betroffene auch von Beihilfe zu den Kriegsverbrechen in Srebrenica.
Bis heute verneinen zahlreiche serbische Politiker*innen und Nationalist*innen, dass es sich beim Fall Srebrenica tatsächlich um einen Genozid, also Angriffe mit der Absicht, eine nationale, ethnische oder religiöse Gruppe ganz oder teilweise auszurotten, handelte. Im Jahr 2006 veröffentlichte eine staatliche Belgrader Zeitung einen Bericht, wonach die getöteten männlichen Zivilbürger in Srebrenica nur die Opfer eines im Krieg üblichen und spontanen Racheakts gewesen sein sollen. Dieser Racheakt soll sich, laut der Zeitung, auf die Angriffe von bosnischen Armeen auf die serbischen Heimatdörfer der Soldaten bezogen haben. Dass es sich bei den Ereignissen in Srebrenica um Völkermord handelte, stellte der Internationale Gerichtshof im Februar 2007 in seinem Urteil auf Basis einer bosnischen Klage gegen Serbien fest. Abgeschlossene Prozesse internationaler Gerichte bestätigten, dass die Verbrechen nicht, wie behauptet, bloß spontan erfolgten, sondern von Radovan Karadžić und Ratko Mladić genauestens geplant und durchgeführt wurden. Am 20. März 2019 wurde Radovan Karadžić in Den Haag von den Richtern des UN-Tribunals unanfechtbar zu lebenslanger Haft verurteilt. Ratko Mladić wurde am 22. November 2017 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Europaparlament erklärte im Jahr 2009 den 11. Juli zum Gedenktag für die Opfer von Srebrenica.
Der Völkermord in Srebrenica bleibt bis heute ein bitterer Tiefpunkt in der Geschichte des ehemaligen Jugoslawiens und ist ein Beispiel dafür, was wachsender Nationalismus in Krisenzeiten anrichten kann. Das Misstrauen anderen Volksgruppen gegenüber ist teilweise bis heute in Gesellschaft und Politik spürbar. Muslimische Bosnier*innen kritisieren die serbische Teilrepublik in Bosnien und den Staat Serbien dafür, den Völkermord von Srebrenica absichtlich verharmlosen zu wollen, da die Geschehnisse von beiden Seiten lediglich als „schreckliches Massaker" anerkannt werden. Für die Angehörigen der Opfer ist die Leugnung und Relativierung des Genozids ein Schlag ins Gesicht. Aus diesem Grund zeigen sich viele Menschen, jährlich am 11. Juli, solidarisch und teilen mit den Worten „Never forget Srebrenica" mit dem Genozid zusammenhängende Artikel, Videos und Fotos auf ihren sozialen Netzwerken. Der Nationalismus wurde in vielen direkt vom Krieg betroffenen Familien an die nächste Generation weitergegeben. Aus diesem Grund kommt es am Gedenktag auch immer wieder zu heftigen Diskussionen und Schuldzuschreibungen in den Kommentarspalten der Erinnerungspostings. Man erkennt deutlich, dass die tiefen Wunden der Jugoslawienkriege noch lange nicht verheilt sind. Es ist notwendig zu erkennen, dass es bei der Erinnerung an den Völkermord in Srebrenica nicht einfach darum geht, serbische Volksangehörige zu dämonisieren, sondern den Opfern nationalistisch motivierter Gräueltaten zu gedenken, Gerechtigkeit durch Anerkennung zu fordern und über den Schmerz der Angehörigen nachzudenken. Es ist allerdings ebenso wichtig zu erwähnen, dass es zahlreiche serbische Volksangehörige gibt, die den Völkermord in Srebrenica sehr wohl als solchen anerkennen und in der Öffentlichkeit dazu stehen, dass sie sich für die Taten und Reaktionen ihrer Landsleute und Politiker*innen schämen. Damit setzen sie ein bedeutsames Zeichen gegen den Hass und den Nationalismus. Denn schlussendlich sollte die Erinnerung an Srebrenica nicht als Provokation, sondern als Prävention in Bezug auf andere durch Hass motivierte Taten betrachtet werden.