Im Restaurant ist es üblich, der Bedienung ein paar Euro mehr zu zahlen. Ist man moralisch sogar dazu verpflichtet? von Selina Thaler und Michelle Janetschek
NEIN
In Deutschland bekommen die meisten Kellner ein anständiges Gehalt. Ich als Studentin bin oft knapp bei Kasse und überlege genau, wann ich einem Kellner ein Trinkgeld gebe.
Wenn ich in ein Restaurant oder eine Bar gehe, dann, um mich zu entspannen und um dort eine schöne Zeit zu haben. Gutes Essen oder einen Kaffee kann ich mir auch zu Hause machen – und zwar wesentlich günstiger. Wenn mir nach einer Stunde ein kaltes Essen vorgesetzt wird, gebe ich kein Trinkgeld. Ich erwarte, dass der Kellner die Verantwortung übernimmt, wenn etwas schiefgeht. Es ist zwar nicht immer seine Schuld, aber ich zahle im Restaurant für eine gute Zeit.
Ich habe selbst gekellnert und weiß, dass es darauf ankommt, jeden Gast zuverlässig und zuvorkommend zu bedienen. Auch wenn jeder mal einen schlechten Tag haben kann: Keinem Kellner bricht ein Zacken aus der Krone, wenn er höflich ist. Ein freundlicher Service ist für mich keine Zusatzleistung, für die ich dankbar sein und die ich extra belohnen muss. Andere Arbeitnehmer kriegen ja auch keinen Bonus, wenn sie jeden Tag ganz normal ihre Arbeit machen.
Nur weil es in unserer Gesellschaft mittlerweile für viele Gäste üblich geworden ist, Trinkgeld zu geben, wird daraus noch keine moralische Verpflichtung für alle. In einigen Ländern, wie den Vereinigten Staaten, gelten andere Regeln, weil Kellner dort vom gesetzlichen Mindestlohn ausgenommen und auf das Trinkgeld als Einkommen angewiesen sind. Das motiviert zwangsweise: Meine Erfahrung ist, dass Kellner in Restaurants dort wesentlich freundlicher sind als deutsche Angestellte. Wäre der Service hier genauso herzlich, würde ich wohl auch freiwillig häufiger Trinkgeld geben – unabhängig davon, ob ich nun Studentin bin oder nicht.
Tina Suckel, 24, macht einen Master in Transkulturellen Studien an der Uni Bremen
JA
Für einen Lohn von sechs bis acht Euro pro Stunde würde ich morgens nicht aus dem Bett steigen und mich abends nicht hinter die Bar stellen. Ich arbeite seit fast zehn Jahren als Kellner in Restaurants, Cafés und Bars – und nur das Trinkgeld macht diesen Job attraktiv.
Den ganzen Tag hetzt man von Tisch zu Tisch: einen Kaffee hier, ein umgestoßenes Wasser dort. Einer will quatschen, ein anderer beschwert sich. Als Kellner muss man häufig die Fehler anderer ausbaden. Ich kann nichts dafür, wenn die Suppe versalzen ist. Mein Job ist es, freundlich zu reagieren, ein neues Gericht zu ordern – und zu hoffen, dass ich trotzdem etwas Trinkgeld bekomme und nicht für die Fehltritte der Küche bestraft werde.
Das Trinkgeld sichert uns Kellnern zum einen unseren Lebensstandard – und den haben wir verdient. Zum anderen ist es auch im Interesse der Gäste, weil es für einen Qualitätsstandard im Service sorgt. Ohne Trinkgeld wäre der freundliche Kellner, mit dem man ein nettes Pläuschchen hält, Geschichte. Das habe ich in den Niederlanden erlebt: Dort ist der Stundenlohn vergleichbar mit dem hierzulande, es wird aber kaum Trinkgeld gegeben. Das Personal ist dadurch unerfahrener, weil man es weniger lange in dem Job aushält, der Service leidet. Das Trinkgeld ist also mehr als nur ein Dankeschön, es hat Auswirkungen auf die ganze Branche.
Ich selbst gebe immer Trinkgeld, im Café genauso wie beim Schuhmacher oder beim Friseur. Mir reicht es, wenn der Service schnell und solide war. Es ist völlig absurd, zu verlangen, dass der Kellner einem die Füße küsst. Ich bestehe zwar für mich selbst nicht auf Trinkgeld, weil ich oft erlebt habe, dass Gäste aus diversen Hosentaschen ihre letzten Cents zusammenkratzen. Aber für mich sind sie willkommen wie jeder andere Gast auch. Die meisten Studenten dürften aber durchaus mal 20 Cent übrig haben.
Amir Ashour, 25, studiert VWL an der Universität KölnOriginal