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Corona: Wie wird sich unser Leben verändern?

Unsplash/Guilherme Stecanella

Der erzwungene Stillstand des öffentlichen Lebens hat für gewaltige Bewegung hinter den Kulissen gesorgt: Plötzlich können wir uns (fast) alles vorstellen


Digital wird normal

Das Virus hat geschafft, etwas umsetzbar zu machen, was Berater seit Jahren predigen: Firmen investieren in Digitalisierung, arbeiten ab sofort flexibel und agil. Bisher hatten sie das nur zögerlich getan. Videotelefonie nutzte laut Statistik Austria im Vorjahr nicht einmal die Hälfte der heimischen Unternehmen. Laut einer Eurostat-Studie von 2018 arbeitete bisher nur jeder zehnte Beschäftigte in Österreich regelmäßig zu Hause. Nun, da viele Erwerbstätige ins Homeoffice geschickt wurden, waren Firmen gezwungen, den digitalen Wandel zumindest im Kleinen einzuleiten. Mitarbeiter lernten de facto über Nacht, mit neuen Messenger-, Video- und Cloud-Diensten zu arbeiten. Und: Es funktioniert. "Homeoffice wird in Zukunft ein Stück normaler, die Vorbehalte, zu Hause nichts zu leisten, sinken vermutlich", sagt Jörg Flecker, Arbeitssoziologe an der Uni Wien. Das betrifft wohl nicht nur gut gebildete Wissensarbeiter, die bisher das Gros der Teleworker ausmachten.

Eine weitere Lehre daraus: Künftig werden Mitarbeiter nicht für jedes Meeting ins Flugzeug steigen, sondern sich öfter per Video besprechen. Das spart nicht nur Kosten, sondern auch CO2. (Selina Thaler)


Konflikt der Generationen

Mit sozialdarwinistischer Kaltblütigkeit ließe sich der Wirtschaftscrash abwenden: Nimmt die Gesellschaft den (früheren) Tod vieler Alter in Kauf, müssten die Jungen nicht per ökonomische Vollbremsung Jobs und Zukunftschancen aufs Spiel setzen. Es gälte nur noch, das große Sterben diskret, also gewissensschonend, abzuwickeln.

Glücklicherweise sind die moralischen Standards so weit entwickelt, dass dieses Szenario tabu ist. Dennoch wird ein Generationenkonflikt aufkochen, verzögert via Pensionsdebatte. Mit den Jobs brechen Versicherungsbeiträge für die Altersversorgung weg, das hebt die Kosten für den Staat. Bei der Budgetsanierung wird deshalb wie schon nach der Finanzkrise der Ruf ertönen, die Pensionsausgaben kräftig zu stutzen.

Der Blick in die Vergangenheit zeigt aber auch, dass dieses Neidvirus wenig infektiös ist. Statt zwischen Alt und Jung verläuft die Konfliktlinie hierzulande stärker zwischen den Ideologien. Dass etwa Senioren das "junge" Anliegen des Klimaschutzes per se ignorieren, ist ein durch Wahlbefragungen widerlegter Mythos. Insofern besteht Hoffnung, dass das Generationenverständnis in der Corona-Krise vice versa ebenso hält. (Gerald John)


Langer Weg zu offenen Grenzen

Nachdem nationale Grenzen bereits seit 2015 eine Renaissance erlebten, sind nun – mehr als 25 Jahre nach Schengen – fast alle Brücken zwischen Europas Staaten gesperrt. Aber sie sind noch nicht eingerissen. Das Coronavirus ließ Staaten in alte, nationalistische Muster verfallen. Der Satz "Wir dürfen kein zweites Italien werden" fiel ungleich öfter als "Wir müssen den italienischen Brüdern und Schwestern helfen".

Und dennoch gab es sie, die Zeichen eines geeinten Europa und verschwindender Grenzen. Als etwa Hubschrauber französische und italienische Patienten nach Deutschland ausflogen. Immer wieder aber keimte während dieser Krise eine gefährliche Form des nationalen Egoismus auf – jene, die den eigenen Staat als gesunden Körper sieht, den es vor scheinbar fremden Krankheiten und Menschen zu schützen gilt.

Die erneute Öffnung der Grenzen für Personen dürfte wohl als eine der letzten Maßnahmen auf dem Weg zu einer Normalisierung unseres europäischen Alltags erfolgen. Zu sehr wurden nationale Grenzen in den vergangenen Wochen als ein Ort stilisiert, an dem Gefahren lauern – auch durch die Stationierung des Militärs. (Fabian Sommavilla)


Die Roboter kommen

Die Zeit der sozialen Distanzierung ist die Sternstunde der Robotik-Enthusiasten. Die Corona-Pandemie sei eine einzigartige Gelegenheit, die Entwicklung medizinischer Robotertechnologien in Gang zu bringen, argumentierte ein Dutzend Robotiker im Leitartikel der aktuellen Ausgabe von Science Robotics.

Tatsächlich wurden im Kampf gegen die Ausbreitung des Coronavirus viele Bereiche sichtbar, in denen die Roboter uns Menschen nicht lediglich – wie bisher gewünscht – unterstützen, sondern gänzlich ersetzen sollten. Da wären zum Beispiel die Desinfektion kontaminierter Räume, die Abgabe von Medikamenten und Lebensmitteln, die Messung von Vitalzeichen, die Durchführung von Grenzkontrollen und die Überwachung von Ausgangssperren.

Abgesehen von diesen ethisch sehr sensiblen Bereichen wird die Corona-Krise die Automatisierung vieler Branchen massiv beschleunigen. Dazu gehören autonomes Fahren, Essenszubereitung in der Gastronomie und Zustellungsdienste.

Die vollautomatisierte Gesellschaft ist das Versprechen eines berührungslosen Alltags. Und dieses Szenario hat gerade einiges an Schrecken eingebüßt. (Olivera Stajic)


Arbeitsteilung bleibt unfair

Wäre das schnelle Sperren von Kindergärten und Schulen möglich gewesen, wenn Frauen und Männer gleichermaßen Vollzeit arbeiteten? Wohl kaum, es war vor allem wegen unbezahlter Arbeit und Teilzeitjobs von Frauen möglich. Die Konsequenzen – ökonomische Abhängigkeit oder niedrige Pensionen – sind bekannt. Das gilt auch für die vielen Frauen im Pflegebereich und im Handel. Was bedeutet nun die jetzige spürbare Relevanz dieser schlecht bezahlten Arbeit? Und: Ist die auferlegte Zwangspause für viele Vollzeitarbeitende eine Chance auf eine gerechtere Arbeitsteilung?

Eine Studie zeigte, dass die Möglichkeit für Homeoffice für beide Eltern an der Verteilung der Familienarbeit nichts ändert. Und nach der Ebola-Krise erholten sich die Einkommen von Männern schneller als die von Frauen.

Der Politologin Birgit Sauer macht für Österreich das bereits angekündigte Sparpaket Sorgen, das zulasten von Sozial- und Gesundheitspolitik gehen könnte. Die Ökonomin Katharina Mader warnt, dass die neue Reservearmee an Arbeitslosen Lohndruck erzeugen könnte. Un- und unterbezahlte Arbeit werde daher erst recht keine Aufwertung erfahren. (Beate Hausbichler)


Déjà-vu in der Eurozone

Die Anzeichen verdichten sich: Die Corona-Pandemie wird zu einer Neuauflage der Eurokrise führen. Das in Bologna ansässige Institut Prometeia schätzt, dass Italiens Wirtschaft heuer um 6,5 Prozent einbrechen wird. Die Staatsverschuldung dürfte aufgrund der Corona-Krise von 136 Prozent auf 150 Prozent der Wirtschaftsleistung steigen.

Dabei war Italien schon vor Corona ein Wackelkandidat: Die Verschuldung des Landes kippte nur dank einer gewissen italienischen Budgetdisziplin nicht und weil die Europäische Zentralbank italienische Schuldscheine massenhaft am Markt aufkaufte und somit die Zinsen für Rom niedrig hielt.

Dieses Gleichgewicht hat Corona zerstört. Eine Möglichkeit wäre, Italien Notkredite über den Eurorettungsschirm ESM zu geben. Dabei müsste Rom Auflagen in Kauf nehmen. Eine Alternative: Die Eurozone beginnt, sich gemeinsam zu verschulden, Stichwort Corona-Bonds. Juristisch wäre ein solcher Prozess nur langsam umsetzbar. Spätestens 2021 wird der Kampf um die Eurozone erneut beginnen. (András Szigetvari)


Zwei Optionen für das Klima

Der Flugverkehr wurde weitgehend eingestellt, der Autoverkehr ist in manchen Metropolen Europas um bis zu 80 Prozent zurückgegangen. Hinzu kommen ein gesunkener Ausstoß in der Industrie und ein Rückgang des produktionsbedingten Energieverbrauchs.

Innerhalb weniger Tage geschah aufgrund der Corona-Pandemie – gezwungenermaßen – weltweit das, was Wissenschafter seit Jahrzehnten predigen: Wir müssen weniger Treibhausgase in die Luft blasen, um die globale Erwärmung einzudämmen.

Dennoch befindet sich der globale Treibhausgasausstoß auf einem historischen Höchstniveau, die Pandemie wird voraussichtlich nur eine kleine Delle in der Statistik hinterlassen. Spannend wird eher, wie sich die Klimapolitik nach der Eindämmung der Krankheit verändern wird.

Es gibt zwei Optionen: Entweder Staaten handeln kurzsichtig und pumpen Geld, das bisher für den Klimaschutz vorgesehen war, nun ohne Umweltauflagen in die Wirtschaft. Oder: Die Politik handelt weitsichtig und integriert Klimaschutz in jeden Rettungsschirm. Denn die Pandemie wird vorübergehen, die Klimakrise bleibt. (Nora Laufer)


Entschleunigung beim Reisen

Noch nie zuvor war die Reisefreiheit so eingeschränkt. Die Grenzen sind dicht, erste Airlines gehen pleite. Gute Nachrichten fürs Klima, werden Zyniker sagen. Doch wird die Reisetätigkeit auch nachhaltig gering bleiben?

Der Zukunfts- und Tourismusforscher Horst Opaschowski widerspricht: "Ohne das Reisen drohen uns Entzugserscheinungen. Wir waren mobil, bevor wir sesshaft wurden", meint er. Der Forscher hat die Ölkrise, Tschernobyl und die Anschläge vom 11. September erlebt – und 30 Jahre lang untersucht, wie sich Krisen auf das Reiseverhalten auswirken. Sein Befund: "Immer hieß es: Nichts wird mehr so sein, wie es war. Aber das hat nie gestimmt."

Opaschowski versteht Reisen als populärste Form von Glück. Und das ist eben nur momentan ein Vogerl. In Zukunft wird es wieder mit anderen, neuen Airlines landen. Manche Prognosen seiner Zunftkollegen erscheinen abstrus: Die Businessclass werde enorm profitieren – wegen des größeren Sitz- und somit Sicherheitsabstands zu potenziellen Virenträgern, sehen sie in der Glaskugel.

Opaschowski hat noch eine andere Vermutung, was uns in die Ferne zieht. Die treibende Kraft hinter Mobilität und Reisen sei die Angst, im Leben etwas zu verpassen. Gerade verpassen wir recht viel. Die Isolation führt aber auch zu Entschleunigung, die Neubewertungen birgt. Und die Chance, bald sinnstiftender zu reisen.

Nur manche werden dafür die Dienste jenes Start-ups in Anspruch nehmen, das DER STANDARD jüngst porträtierte: Traivelling bietet weltweit Zugverbindungen an, wie es keine Bahngesellschaft schafft. Dafür haben die Wiener in der Krise eine beachtliche Förderung lukriert. (Sascha Aumüller)


Elektronisches Wählen für alle

Eines der ersten Opfer des Coronavirus seien herkömmliche Wahlmethoden: So beschreibt es Joe Brotherton, der Vorsitzende des US-Unternehmens Democracy Live, das elektronische Stimmabgabe ermöglicht, in der US-Zeitung Politico. Fünf Bundesstaaten haben in den USA mit Ausbruch des Coronavirus die Präsidentschaftsvorwahlen abgesagt. In Österreich annullierten Vorarlberg und die Steiermark ihre Gemeinderatswahlen.

Das müsste nicht sein, Estland etwa wählt seit 2009 auf allen Ebenen online. Hierzulande aber bleiben Wahlen eine reine Offline-Angelegenheit: Sie finden im Wahllokal oder per Briefwahl statt. Dass die digitale Stimmabgabe auf Dauer nicht aufzuhalten ist, glaubten bislang schon viele.

Argumente, die stets dagegen gesprochen hätten, fielen in der aktuellen Krise weg, sagt Ursula Maier-Rabler, die zu E-Democracy am Institut für Kommunikationswissenschaft der Uni Salzburg forscht: Die digitale Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger werde automatisch höher, Netzanschlüsse besser, wenn Haushalte online gehen müssten. Bestehen bleiben allerdings weiter einige Sicherheitsbedenken.

Michael Butz, Geschäftsführer von A-Trust, einem Unternehmen, das technische Infrastruktur für die Handysignatur anbietet, beobachtet momentan einen "totalen Run". Via Handysignatur lassen sich Behördengänge online erledigen, Volksbegehren und Dokumente digital unterschreiben.

Erich Schweighofer, Rechtsinformatiker an der Uni Wien, plädiert dafür, dass Parlamente digitale Chancen nützen, um funktionsfähig zu bleiben: "Das Instrumentarium von E-Voting und -Partizipationsformen gehört dazu und sollte Standard sein, ist es aber nicht." (Anna Giulia Fink, 29.3.2020)

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