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Studienbeginn: An der Uni lernst du 1000 Leute kennen

© Fulya Lisa Neubert/EyeEm.com

Acht Erwartungen ans Studium - und wie es wirklich ist

An der Uni lernst du 1000 Leute kennen

Stimmt nicht.

In der Schule ist die Zahl der Leute, die man kennenlernen kann, begrenzt. Von der fünften Klasse bis zum Abi stehen im Grunde immer dieselben Leute auf dem Pausenhof rum. An der Uni wird das endlich anders: Da hat man unendlich viele Möglichkeiten, Leute kennenzulernen. Es gibt keine festen Klassen mehr, dafür wechselnde Seminare und Vorlesungen, jedes Semester kommen neue Leute in die Stadt, je nach Wohnort sind es Tausende. Es gibt Ersti-Partys, Fachschafts-Partys, WG-Partys. Man kann jeden Tag neben neuen Menschen im Hörsaal sitzen, in der Mensa, im Café. Aber die Erwartung, dass man an der Uni wie von allein tausend neue Leute kennenlernt, bewahrheitet sich für die meisten Studentinnen und Studenten nicht. Manche leiden sogar unter Einsamkeit.

Zum Beispiel Sabine. Sie ist bereit, über das Tabuthema Einsamkeit zu sprechen, will ihren Nachnamen aber für sich behalten. Sabine studierte Medizin und musste im vierten Semester die Uni wechseln, von Göttingen nach Mainz, rund 300 Kilometer entfernt. Eigentlich wusste sie da schon, wie das Studentenleben geht. Doch als sie an die neue Uni kam, blieb sie einsam. "Nirgends gehörte ich dazu, keiner hatte Zeit", sagt die 27-Jährige. "Ich hatte keinen, mit dem ich mich austauschen konnte. Es war, als sähen mich die anderen gar nicht."

Wie viele Studenten unter Einsamkeit leiden, ist nicht bekannt. Verschiedene Studien haben versucht, das Phänomen zu messen, mit unterschiedlichen Ergebnissen: Knapp elf Prozent der 18- bis 29-Jährigen seien einsam, ergab eine aktuelle Befragung der Deutschen Krankenversicherung (DKV). Eine Studie der Ruhr-Uni Bochum kam zu dem Resultat, dass knapp 15 Prozent der 25- bis 35-Jährigen sich zumindest manchmal einsam fühlen. "Eigentlich wissen wir gar nicht, wie viele Menschen einsam sind", sagt Janosch Schobin, der als Soziologe an der Uni Kassel zu Einsamkeit forscht.

Manche Leute meinen, dass Einsamkeit zunehme, und geben Smartphones und Social Media die Schuld. Doch dazu gebe es keine belastbaren Zahlen, sagt Schobin. Und bei der Psychologischen Beratungsstelle des Kölner Studierendenwerks komme das Thema Einsamkeit in den Beratungsgesprächen heute genauso häufig vor wie vor zehn Jahren, sagt die dortige Psychologin Annika Demming. Niemand gebe gerne zu, einsam zu sein, erklärt Janosch Schobin. Das mache es so schwer, aussagekräftige Zahlen zu erheben.

Trotzdem gibt es Einsamkeit, und die Gründe dafür sind unterschiedlich. Viele ziehen fürs Studium in eine andere Stadt, lassen also Freunde und Familie zurück. Andere haben kaum Zeit, einen Freundeskreis zu pflegen, weil sie sich auf ihr Abschlussexamen vorbereiten oder nebenbei arbeiten, um das Studium zu finanzieren. Dass man immer mal wieder allein ist, gehöre zu einer Bildungsbiografie dazu, sagt Schobin: "Einsamkeit ist ein Bestandteil der Selbstfindung, es ist quasi ein Wachstumsschmerz."

Nicht jeder, der allein ist, ist deshalb auch einsam. Das ist man erst, wenn man unter dem Alleinsein leidet. Wenn man sich einsam fühlt, werden dieselben Hirnareale aktiviert wie bei körperlichem Schmerz, zeigen medizinische Studien. Soziale Isolation senkt die Lebenserwartung und hat etwa Stress, Bluthochdruck, Depressionen, Schlafstörungen oder Erschöpfung zur Folge. So schildert es auch Sabine. Sie wurde depressiv. Um sich von der Einsamkeit abzulenken, lernte sie viel für die Uni. Das ist bei jungen Menschen die häufigste Form, Einsamkeit zu kompensieren, zeigt eine Studie des Vereins Wahlverwandtschaften. Manchmal ging Sabine aber auch dreimal die Woche allein in Clubs tanzen, erzählt sie, sie trank und rauchte viel. "Nur beim Feiern habe ich mich nicht einsam gefühlt." Irgendwann konnte sie wegen ihrer Depression Kurse nicht mehr besuchen. "Ich hatte keine Kraft mehr zu lernen, konnte mich nicht mehr konzentrieren", sagt sie. "Der Knackpunkt war, als ich in einer Prüfung in Mikrobiologie, einem Fach, in dem ich eigentlich gut war, ein Blackout hatte und durchfiel." Nach vier Jahren an der Uni Mainz brach sie ihr Studium ab und begann eine Therapie.

Ihrer Erfahrung nach sei Einsamkeit bei vielen Studienanfängern nur eine Phase, sagt Psychologin Demming. Um Kontakte zu knüpfen, empfiehlt sie die Fachschaft, den Hochschulsport, den Chor, Theatergruppen, religiöse Hochschulgruppen, die Uni-Zeitung und die Orientierungswoche. Im Schnitt finden Studenten ein Fünftel ihrer Freunde an der Uni, zeigt eine aktuelle Yougov-Umfrage, genauso viele wie damals in der Schule.

Sabine geht es heute übrigens wieder besser. Im Frühjahr 2019 will sie ihr Medizinstudium wieder aufnehmen.


Selina Thaler, 24, hat Publizistik- und Kommunikationswissenschaften an der Uni Wien studiert. In ihrer ersten Vorlesung lernte sie Nora kennen. Von da an saßen sie immer nebeneinander. Sie sind seit sechs Jahren eng befreundet.


15. Oktober 2018, 11:06 Uhr // ZEIT Campus Nr. 6/2018, 9. Oktober 2018

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