SPIEGEL: Mr. Engman, für Ihr Kunstprojekt "Mom" haben Sie Ihre Mutter über zehn Jahre fotografiert. Sie nennen sie "meine Muse". Eine derart symbiotische Beziehung zwischen Mutter und Sohn, wie Ihr Kunstprojekt sie vermittelt, gilt gemeinhin als unnormal und legt eine starke Abhängigkeit nah.
Charlie Engman: Das ist die zu hundert Prozent zutreffende Beschreibung unserer Beziehung. In gewisser Weise habe ich versucht, diesen Zustand, der mich schon mein ganzes Leben quält, künstlerisch zu verwerten.
Kathleen McCain Engman: Oh nein! Charlie, komm schon.
Engman: Mom. Jeder hat eine ganz spezielle Beziehung zur eigenen Familie, die einerseits wundervoll und andererseits grausam ist.
SPIEGEL: Umgekehrt gewinnt man den Eindruck, dass die Mutter in solchen Beziehungen keine anderen Interessen als ihr Kind hat.
Engman: Meine Mom hat ihre Karriere aufgegeben, um Mutter zu werden. Ich bin da innerlich zerrissen. Einerseits empfinde ich Dankbarkeit für dieses Opfer. Obwohl, "Opfer" ist der falsche Ausdruck - sagen wir, sie hat mir und meiner Schwester dieses Geschenk gemacht.
SPIEGEL Und andererseits?
Engman: Habe ich total unter ihrer Hyperaufmerksamkeit gelitten. Es steckt also viel Ambivalenz in dem Projekt. Mit den Fotos wollte ich unsere Beziehungsdynamik erforschen. Denn es muss ja auch etwas Befreiendes in dieser gegenseitigen Unterwerfung liegen. So würde ich unsere Beziehung nämlich nennen. Theoretisch hätte ich mich irgendwann von meiner Mom emanzipieren können. Ich tat es nicht. Und meine Mom hätte sich für ihre Karriere entscheiden können, nachdem ich und meine Schwester fürs Studium ausgezogen waren. Auch sie tat es nicht.
McCain Engman: Ich habe früher für internationale Bildungs- und Kultureinrichtungen gearbeitet. Als ich mit Charlie schwanger war, arbeitete ich in Japan. Ich überlegte hin und her, aber beschloss dann, zu Hause zu bleiben. Später engagierte mich in Wohltätigkeitsorganisationen hier in Chicago und in der Schule meiner Kinder. Ich war ihren Altersgenossen und ihrer Welt so nah, wie es den meisten anderen Müttern nicht möglich war. Die waren damit beschäftigt, in den Zug zu steigen, in ihre Büros zu fahren und ihre Karriere zu planen. Dafür habe unglaublich viel Respekt. Aber ich bin eben auch dankbar für das, was ich hatte.
SPIEGEL: Wie oft haben Sie die Entscheidung bereut?
McCain Engman: Es ist etwas schade, dass ich keine ehemaligen Arbeitskollegen habe. Viele Mütter haben Joberfahrungen gemacht, die mir fehlen, und die in unserer Gesellschaft einen großen Wert haben. Aber ich bereue es nicht. Ich weiß ja, dass ich auch in Zukunft immer für meine Kinder da sein werde, egal, was die Umstände fordern. Wenn alles den Bach runter geht und mir nichts außer meine Familie bleibt, dann weiß ich, wie man ein Erdloch gräbt und darauf eine neue Zukunft baut. Wobei, ein Loch zu graben ist da wahrscheinlich der falsche Weg.
SPIEGEL: Es gibt Seiten, die Kinder an ihren Müttern gar nicht erst kennen lernen möchten. Sexualität gehört dazu, gerade weil ihnen die Mutter so heilig ist. Für Sie, Mr. Engman, scheint das nicht zu gelten, Sie fotografieren sie etwa auch sehr lasziv.
Engman: Interessant, dass Sie sagen, Mütter seien heilig. Ich finde nicht, dass wir Mütter so behandeln, wie man Heilige behandelt. Zumindest die US-Gesellschaft tut das nicht.
SPIEGEL: Was meinen Sie konkret?
Engman: Sie schenkt Müttern nicht genug Wertschätzung. Mutterschaft gilt als Höhepunkt der Weiblichkeit, und man sollte als Mutter nicht daran zweifeln. Für Mütter, die mit Ihrer Rolle hadern, hat kaum jemand Verständnis. Ich fand nicht, dass das Konzept von "Heiligkeit" auf meine Mom zutrifft. Deshalb begann ich mit diesem Projekt. Ich wollte dieses Ideal in Frage stellen. Sexualität und Lust werden in unter dem Konzept der "heiligen Mutter" zu Tabus oder Fetischen erklärt. Wir sollten das nicht akzeptieren. Alle Körper verströmen Sexualität und Lust. Ich interessiere mich für alle Facetten meiner Mutter. Warum sollte ich also ihren Körper meiden?
SPIEGEL: Finden Sie den Körper Ihrer Mutter, eines alternden Menschen, schön?
Engman: Es gibt auf der Welt eine unendliche Anzahl von Körpern, die aussehen wie der meiner Mutter. Für mich ist es seltsam, dass denen nicht genauso viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Ich arbeite in der Modeindustrie, ich weiß, wie konstruiert Verlangen ist. Oft entzieht es sich jeder realen Grundlage. Es handelt sich lediglich um erlerntes Verhalten. Dasselbe gilt für die Vorstellung von Geschlechtern. Für mich als queerem Mann sind Geschlechter Dinge, mit denen man spielen kann, das zeige ich ja auch auf einigen der Fotos von meiner Mom. Geschlechterzuschreibungen haben eine sehr wichtige Bedeutung, klar, und sie beeinflussen, wie Menschen miteinander interagieren. Gleichzeitig sind sie aber völlig willkürlich.
SPIEGEL: Die Posen, die Ihre Mutter einnimmt, Ihre Nacktheit auf einigen Bildern, das wirkt verstörend, wenn man erfährt, dass hinter den Aufnahmen der Sohn steckt.
Engman: Ich erzähle ihnen eine lustige Begebenheit: Als wir in Louisiana auf dem Bayou Aufnahmen machten, mussten wir ein Boot mieten. Also haben wir diesen Typen angeheuert, damit er uns die Gegend zeigt. Er fühlte sich anfangs sehr unwohl, als wir auf seinem Boot Aufnahmen machten. Erst als ich meine Mutter direkt ansprach, war er erleichtert: "Oh! Oh! Das ist deine Mutter! Ich dachte, du würdest so ein komisches Sex-Fetisch-Ding mit einer älteren Frau treiben!"
McCain Engman: Louisiana ist eine ziemlich konservative Gegend.
Engman: Ich würde das jetzt nicht auf Louisiana projizieren.
McCain Engman: Naja, der Typ, der uns rumschipperte, hat ziemlich viel Unsinn über Obama geredet.
Engman: Lass' uns nicht mit der Diskussion anfangen. Für mich ist der interessante Teil der Geschichte, dass er seine Einstellung komplett geändert hat, als ihm klar wurde, dass wir kein seltsames Liebespaar sind, sondern Mutter und Sohn. Plötzlich war er extrem hilfsbereit. Es wurde richtig bizarr, weil er auf einmal sogar Posen für meine Mom vorschlug.
SPIEGEL: Mrs. McCain Engman, empfanden Sie bei dieser Zusammenarbeit jemals so etwas wie Scham gegenüber Ihrem Sohn? Oder hatten Sie Angst, Ihre Autorität als Mutter zu verlieren?
McCain Engman: Das ist ein interessanter Begriff, den Sie gewählt haben, "Autorität als Mutter". Ich denke, Charlies Arbeit wirft Zweifel an dieser Autorität auf. Ich selbst frage mich: Wie konnte ich mir jemals überhaupt vorstellen, diese Autorität zu besitzen? Und auf die Frage, ob ich mich jemals geschämt hätte, habe ich eine sehr einfache Antwort: Niemals! Ich komme aus Kalifornien, da kennen wir sowas nicht. Im Ernst: Es liegt daran, dass ich meinen Kindern total vertraue. Was manchmal schwierig ist, manchmal schmerzhaft. Aber warum sollte ich es nicht tun?