Katerina Sulova/ CTK Photo/ imago images
Seine berühmtesten Fotos zeigen zum Tode verurteilte Mehrfachmörder, die blutdurchdrängte Kampfmontur eines gefallenen Soldaten oder einen schockierend ausgemergelten Aidskranken im Sterbebett im Kreis der Familie - alles Werbung für den Modekonzern Benetton. Gerade hat der 77-jährige Oliviero Toscani Fotos für eine in München ansässige Kunstversicherung gemacht.
Sein Gesichtsausdruck beim Interview vermittelt allerhöchste Anspannung, er hat die Zähne zusammengebissen, der Mund ist leicht geöffnet. Wenn er zuhört, malmt er mit den Backenzähnen. Freundlich wirken auf den ersten Blick nur seine bunten Ringelstrümpfe.
Er begrüßt den Gesprächspartner mit der Frage, ob dieser tätowiert sei - das könne er nämlich gar nicht leiden. Sein Englisch mixt er mit ein paar Brocken Deutsch: "Guten Tag", "Wirtschaft" und "Konzentrationslager".
SPIEGEL: Herr Toscani, eine Ihrer ersten Arbeiten war ein Affront gegen die Kirche: die Werbekampagne für das Label Jesus Jeans.
Oliviero Toscani: Ich habe keine Kampagne gemacht, sondern Fotos. "Kampagne" haben es die anderen genannt. Das Militär macht Kampagnen, nicht ich!
SPIEGEL: Eines der Fotos zeigt einen Frauen-Po in Hotpants, darauf ein vermeintliches Jesus-Zitat: "Wer mich liebt, der folgt mir". Haben Sie damals die Marke Toscani erfunden, der Provokateur?
Toscani: So würde nur ein dummer Art Director oder Creative Director denken. Ich bin, was ich bin. Ich habe nie versucht, wichtig zu sein. Wenn ich eine Aufgabe bekomme, dann erledige ich sie. Mehr nicht.
SPIEGEL: Rassismus, Krieg, Umweltverschmutzung, Aids...
Toscani: ...das sind alles Dinge, die mich umgeben...
SPIEGEL: ...und das waren Sujets Ihrer Werbefotos. Ihnen wurde vorgeworfen, Sie würden aus Leid und Katastrophen Kapital schlagen, fotografischen Elendstourismus betreiben.
Toscani: Und das oberste Gericht in Deutschland hat die Fotos verboten.
SPIEGEL: Auf die großen Krisen der jüngsten Vergangenheit, etwa den Atomunfall in Fukushima, IS-Terror, Klimanotstand, die weltweite Flüchtlingsbewegung, reagierten Sie nicht mehr mit Fotos. Haben Sie eingesehen, dass Ihre Kritiker recht haben?
Toscani: Ich habe keine Firma gefunden, die mitmachen wollte, und ich brauche eine Bühne... aber ich habe viele Bilder im Kopf.
SPIEGEL: Wie sehen die aus?
Toscani: Es sind Bilder. Zum Anschauen. Man kann sie nicht in Worte fassen, deshalb sind es Bilder. Verstanden? Musik kann man pfeifen. Bilder nicht, die muss man sehen. Nur ein Bild regt die Menschen noch zum selbstständigen Denken an. Durch das Foto des toten Flüchtlingsjungen Aylan Kurdi hat jeder kapiert, hier gibt es ein Problem. Videos in den Nachrichten haben das nicht geschafft.
SPIEGEL: Verbittert es Sie, dass viele Probleme, die Sie als Fotograf seit 40 Jahren thematisieren, sogar noch größer und globaler wurden - wie etwa Rassismus oder die Umweltverschmutzung?
Toscani: Ich finde das verstörend, natürlich. Aber was soll ich tun? Es gibt eine Sache, die noch schlimmer ist, als zu spät dran zu sein. Zu früh dran zu sein. So ging es mir. Das fühlt sich nicht gut an.
SPIEGEL: Sie waren ein Vorkämpfer für Integration.
Toscani: Ich wollte nie ein Vorkämpfer sein. Denn da geht es einem schlecht, man wird ständig kritisiert, runtergemacht, angefeindet.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich den Hass auf Flüchtlinge, der in Deutschland aber auch in Italien zu beobachten ist?
Toscani: "Fremde", "Ausländer", diese Worte sind total negativ konnotiert, historisch bedingt. Es gibt keinen echten Grund für Rassismus. Die Menschheit müsste besser gebildet sein, aber das ist sie nicht, nicht mal zivilisiert. Am Ende entscheiden immer noch Waffen. Noch schlimmer sind die sozialen Medien, das sind die neuen Konzentrationslager.
SPIEGEL: Dieser Vergleich ist zynisch. Und unangemessen. Aber das wissen Sie vermutlich selbst.
Toscani: Ich bleibe dabei: Die sozialen Medien sind die Konzentrationslager der modernen Gesellschaft. Man geht rein und wird ausgeschaltet.
SPIEGEL: Geht Ihnen Provokation eigentlich über alles?
Toscani: Das meinen Sie! Viele junge Leute sind zu nichts mehr zu gebrauchen. Es geht eine Menge Talent verloren. Und Chancen. Junge Menschen glauben nicht mehr an die Zukunft. Als ich jung war, habe ich nur an die Zukunft gedacht.
SPIEGEL: Wenn man sich Greta Thunberg und die "Fridays for Future"-Demonstrationen anschaut, bekommt man einen anderen Eindruck. Es gibt offensichtlich eine neue Generation, die sich große Sorgen um die Zukunft unseres Planeten macht und sich politisch engagiert.
Toscani: Das sind die nach dem Jahr 2000 Geborenen. Ich habe 16 Enkelkinder von sechs Kindern. Die jüngsten sind viel unabhängiger, kritischer. Ich bin optimistisch, was diese Generation angeht. Die kapieren, dass die Welt komplex ist.
SPIEGEL: Hatten Sie in Ihrer Karriere...
Toscani: ...ich habe keine Karriere. Ich bin kein Manager oder Politiker. Künstler machen keine Karriere. Sie machen das, was sie tun müssen.
SPIEGEL: Wie wollen Sie Ihren Werdegang denn dann nennen?
Toscani: Arbeit. Karriere macht man in der Wirtschaft. Arbeit ist die Möglichkeit, sich selbst auszudrücken.
SPIEGEL: Hatten Sie denn dabei auch mal das Bedürfnis, einfach mal die Kamera aus der Hand zu legen, und den Menschen vor der Linse zu helfen? Etwa dem magersüchtigen Model Isabelle Caro, die drei Jahre nach Ihren Werbeaufnahmen starb. Oder den schwer arbeitenden Kindern, die Sie für Benetton fotografierten.
Toscani: Warum hätte ich die Kamera weglegen sollen? Sie fragen einen Arzt doch auch nicht, ob er seinen Patienten nach der Operation noch hilft? Die OP ist die Hilfe! Ich hätte diese Fotos ja nicht gemacht, wenn ich keine Mitschuld verspürt hätte. Und was Caro angeht: Wenn sie die Aufmerksamkeit durch das Foto nicht bekommen hätte, wäre sie noch früher gestorben. Das Foto hat sie mehr oder weniger am Leben gehalten, es hat ihr das Gefühl gegeben, wertvoll zu sein. Die ganzen armen Menschen, die ich fotografiert habe, hätte ich denen Geld schenken sollen? Geld löst keine Probleme, das ist dummes, kapitalistisches, kolonialistisches Denken.
SPIEGEL: Sie arbeiten seit 2017 wieder für Benetton. Die Familie Benetton hält Anteile am Versicherungsunternehmen Generali, für deren Kunstversicherung Sie jetzt auch Werbung machen. Sie haben dafür den Künstler Maurizio Cattelan fotografiert: Er posiert nackt, mit einer Replik seines "America" genannten Kunstwerks, einer goldenen Toilette, die im September aus einer Ausstellung gestohlen wurde....
Toscani: ...Luciano Benetton hat sie geklaut! Das ist Ihre Schlagzeile!
SPIEGEL: 2017 hat ein Museum US-Präsident Trump das goldene Klo fürs Weiße Haus angeboten...
Toscani: ...aber Trump wollte es nicht. Jetzt scheißt er in den Garten.
SPIEGEL: Ihr Model Cattelan ist genauso eine Skandalnudel wie Sie. Für ein Kunstwerk begrub er den Papst unter einem einschlagenden Meteoriten, er platziert eine auf Knien betende Hitler-Statue vor einem ehemaligen Getto. Ihre aktuelle Zusammenarbeit wirkt dagegen ziemlich langweilig.
Toscani: Sie sind ein Bastard! Wenn ich aufregende Fotos mache, werde ich vor deutsche Gerichte gezerrt. Und wenn ich darauf keinen Bock habe, sagen Sie, ich sei langweilig. Sie können mich mal, das ist meine letzte Antwort.