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Diät-Trend: Am „Cheat Day" stopfen sich alle voll - WELT

Der Tag, an dem sich alle Fitnessgurus vollstopfen

Ein absurder Ernährungstrend verbreitet sich gerade im Internet. Man hungert die ganze Woche - um sich dann am „Cheat-Day" auf perverse Art vollzufressen. Und man fragt sich: Soll das etwa Kunst sein?

Es könnte auch ein Fetisch-Porno sein, der verhältnismäßig harmlosen Sorte zwar, dafür umso absurder: Eine grazile Size-Zero-Schönheit mit „thigh gap", also möglichst viel Freiraum zwischen den Oberschenkelinnenseiten, „abcrack", einer tiefen Furche, die von der Brust bis zum Nabel den dünnen Bauch der Länge nach teilt, was besonders durchtrainiert aussieht, und zwei perfekten Apfelbrüstchen, frisst sich voll.

Sie ist noch verschwitzt vom Morning-Work-out und in enge Spandex-Leggings sowie ein bauchfreies Top gepackt. Vor ihr vier Tiefkühlpizzen, darunter eine Quattro Formaggi mit extra Blauschimmelkäse, Gorgonzola, Ziegenkäse, Emmentaler und geriebenem Pizzakäse, Hochlands „Heiße Scheiben" im Pizza-Style und Sour Cream sowie eine Salami-Pizza mit extra Salami und Fleischsalat-Topping, Ofenkäse, Back-Camembert, Ben-&-Jerry's"-Eis, drei verschiedene Sorten Eissorbet, Eis am Stiel, Schokoladenmousse-Torte von Milka, Schokoladenkuchen aus dem Gefrierfach, den man vor dem Verzehr einfach bloß in die Mikrowelle stellen muss, verschiedene Sorten Schokomilchgetränke, Schokopudding, Milchschokolade mit Toffeecreme, Milchreis mit Schokolade, Schoko-Vanille-Cheesecake im Glas, fünf Pfannkuchen im Plastikbeutel, dazu Preiselbeeren und Erdbeermarmelade, Kinder Pingui, Oreo-Kekse, Milka Luflee, Milka-Lu (die mit Keks), Leibniz-Kekse Black'n'White, drei verschiede Packungen Gummibärchen, zwei Tüten Chips, Käsedip, vier verschiedene Biermixgetränke, eine Flasche Sekt und zweimal „Hugo to go".

Okay, es ist nicht nur für sie, sondern auch für ihren Mann, und sie hat Geburtstag. Aber trotzdem, die Essgewohnheiten, die die junge Frau an den Tag legt, haben nichts mehr mit Normalität zu tun, sie gleichen einer Mastkur. So, stellt man sich vor, hat sich Charlize Theron ernähren müssen, um die Serienkillerin im Film „The Monster" spielen zu können.

Die Frau vor den Speisebergen heißt Alina Schulte im Hoff. Und sie sieht keineswegs aus wie ein Monster, sie gleicht vielmehr einer Elfe. Denn normalerweise frisst Alina nicht, sie hungert und trainiert. Sie ist „Fitness-Unternehmerin" und Betreiberin der Seite size-zero.de. „Size Zero" ist ein anderes Wort für die Kleidergröße 32, also eine Kleidergröße, die zu erreichen wirklich sehr, sehr hart und in den meisten Fällen auch nicht unbedingt gesund ist.

„Size Zero" ist nach anfänglicher Ächtung in Mager-Model-Debatten in den letzten Jahren zu einem weithin akzeptierten Trend geworden. Die Fitnessseite zur Erreichung der „Größe null" betreibt Alina gemeinsam mit ihrem Mann, Julian Zietlow. Außerdem hat sie einen eigenen YouTube-Kanal. Dort eskaliert Alina vor der Kamera, einmal die Woche, am Sonntag, sie frisst. Richtig trashig das Ganze: „Kill Bill" mit vollstopfen statt abmetzeln.

Darben, damit man an einem Tag die Diät unterbrechen kann

Das Konzept heißt „Cheat-Day", was so viel bedeutet wie „Schummeltag". Früher bedeutete „Schummeltag", jedenfalls im deutschen Sprachraum, in etwa, dass man „mal eine Ausnahme" machen darf, weil man wusste, der Jo-Jo-Effekt lässt sich besser vermeiden, wenn man dem Körper während der Brigitte-Diät ab und zu ein Stück Torte zuführt. Es war kein feststehendes Konzept, sondern eine verschämte Frauenzeitschriftenfloskel.

Nicht so beim Cheat-Day dieser Tage. Es klingt krank, aber Exzesse wie der von Alina Schulte im Hoff sind Teil einer zur Zeit ziemlich angesagten Ernährungsstrategie: Die meiste Zeit darben, damit man sich an einem ausgewählten Tag der Woche wie ein Müllschlucker benehmen darf. Eine Ernährungsphilosophie, die es möglich macht, dass magere Mädels und durchtrainierte Typen alles in sich reinstopfen dürfen, was sie wollen, ohne es im Anschluss wieder erbrechen zu müssen.

Der Trend hat es über einige Umwege aus dem Wettkampf-Bodybuilding in die sozialen Netzwerke und vor allen Dingen auf YouTube geschafft. Ursprünglich bestand die Idee nämlich darin, wieder Kraft zu tanken oder „sich aufzuladen", wie es im Fachjargon heißt, nachdem man für einen Wettbewerb durch mehrmonatiges Fasten das Körperfett auf ein absolutes Minimum runtergeschraubt hat.

Das Ganze lässt sich auch prophylaktisch durchführen, um eine anstehende Diät überhaupt erst zu überstehen. Der Cheat-Day begründet sich, rein wissenschaftlich, aus einer eigentümlichen Logik, die in etwa so geht: Es passiert sowieso. Wenn schon Fressanfälle, dann doch lieber gezielte.

Wer trotz Sport und anstrengender Dauerpräsenz in sämtlichen sozialen Netzwerken hungert, dessen Körper killt Fettreserven. Wenn man es mit so etwas auf die Spitze treibt, artet das automatisch in ungewollte Fressattacken aus, in sogenanntes „ Binge-Eating ", bei dem die Diätwilligen das Gefühl haben, die Kontrolle über ihren Körper und ihr Essverhalten zu verlieren.

Der Cheat Day ist ein Rückfall in die Pubertät

Die Inszenierung des institutionalisierten Einmal-die-Woche-Exzesses in sozialen Netzwerken ist fester Teil des Konzepts. In den YouTube-Videos werden über der Anhäufung von ungesundem Essen vielversprechende Schriftzüge wie „size-zero.de", „das10wochenprogramm.de" oder „ilovepersonaltraining.de" eingeblendet, die als Link zu den jeweiligen Seiten funktionieren, auf denen die Fitnessstars ihre Trainings- und Ernährungspläne anbieten.

Es gibt das Ganze auch in der Promi-Variante, zum Beispiel mit Schauspieler Dwayne „The Rock" Johnson. Der „Hercules"-Darsteller ist König darin, hat 172 Tage lang Diät gehalten und sich am Tag der Befreiung dann ein Mittagsmahl aus 12 Pfannkuchen, vier Pizzen und 21 Brownies bereitet.

Die Botschaft ist der Zusammenfall aller Extreme: einen Astralkörper besitzen, obwohl man im Herzen doch eigentlich dieselben Essgewohnheiten hat wie ein Dicker. Auf eine Extremdiät extreme Fressgelage folgen lassen. Sechs Tage die Woche sich im Kaloriendefizit befinden, um am siebten mehr zu essen, als man jemals braucht.

Es ist, als würde die Geschichte einer Pubertät in Dauerschleife wiederholt. Als Kind isst man, wenn man Hunger hat, man schläft, wenn man müde ist, und weint, wenn man traurig ist. Mit Beginn der Pubertät ändert sich das auf einmal. Man schläft kaum noch, um am Wochenende ins Koma zu fallen, lernt in der Schule gar nichts mehr und holt in der Nacht vor der Prüfung alles nach. Bulimie-Lernen heißt das.

Lieber selbst-induzierte Fressanfälle

Der Fitness-YouTuber „Schmale Schulter", dessen Name sich wie der eines Indianers aus „Winnetou" anhört, in Wahrheit aber ein ironisches Statement zu den tatsächlichen Ausmaßen seines Trägers ist, offenbart sich im Video als ehemals von Fressattacken Betroffener - und wirbt für den Cheat-Day, indem er warnt: „Leute, Essattacken sind körperlich gesteuert, euer Körper signalisiert euch gerade, dass er überleben will, dass er gerade richtig Panik bekommt."

Er ist froh, dass er diese unkontrollierten Zeiten hinter sich hat und sich belehren ließ: Wenn schon Fressanfälle, dann doch lieber selbst induzierte. Wollte man den Cheat-Day psychoanalytisch deuten, könnte man zu dem Schluss kommen, hier solle der Genuss, der ja meistens doch eine gewisse Mäßigung voraussetzt, um jeden Preis vermieden werden. Ein dauerpubertierendes Fresssubjekt, das in der Freiwilligkeit seines Exzesses seine absolute Selbst- und Weltbeherrschung zelebriert.

Man könnte nun Angst haben, dass jungen YouTube-Usern, die sich für ihren Körper interessieren, durch diese Videos völlig falsche, ungesunde und viel zu extreme Ernährungs- und Lebensweisen vorgemacht werden. Aber vielleicht muss man das Ganze einfach als Kunst betrachten.

Die Titel der Werke lauten etwa: „10.000 kcal - Ekligster Cheatday meines Lebens!!!", „Extremer Cheatday in Spanien", „SCHAFFE ICH DIE 10.000KCAL???", „Ben & Jerry's Eskalation!", „Donut Armageddon!", „Letzter Cheatday vor der Hochzeit", „Futtern mit Alina!",„Cheatday in Dubai!" oder „Paranormal Cheatday!"

Diät-Unterbrechung als Selbstinszenierung

Der Meister darin, die Verbindung zwischen Konsum und Selbstinszenierung künstlerisch zu verarbeiten, war Andy Warhol. Es gibt ein spätes Video von 1981, das zeigt, wie er einen Hamburger von Burger King verdrückt. Während Warhol in vier Minuten gerade mal einen Burger packte und dabei ziemlich wortkarg blieb, bloß am Ende den Satz „My name is Andy Warhol and I just finished eating a Hamburger" rausbekam, wiederholen die Fitness-YouTuber Alina und Julian in ihren Videos jedes Mal, wenn sie erzählen, was sie da gerade in sich reinstopfen, mantraartig den Satz: „Mal gucken, wie viel wir davon schaffen, weil Eis gibt es danach ja auch noch."

Bereits die Anfänge ihrer Videos, wenn es um Vorratskäufe geht, sehen so aus, als würden die Protagonisten im Foto-Diptychon „99 Cent" von Andreas Gursky herumwandeln: Nicht enden wollende Regalreihen, vollgestopft mit eingeschweißtem Scheiß, der dich killt.

Die Performances der Fress-Heroen sind wie schwarze Löcher des Kapitalismusexzesses, alles kollabiert in ihnen, Kritik und Affirmation, Selbstbehauptung und Selbstzerstörung. Die Tische, die sich in den Videos unter der Last des ungesunden Fraßes nach unten biegen - bloß eine Abwandlung von Tracy Emins „My Bed". Statt Wodkaflaschen, vollgerotzten Tempos, Unterwäsche und Kippen gibt es hier Essensreste und -verpackungen. Dem Publikum die eigenen Schwächen preisgeben und dann als Künstler davon am Ende profitieren.

In den Siebzigerjahren brauchte die Performance-Künstlerin Marina Abramović für ihre berühmte „Rhythm 0"-Performance noch das Publikum, dem sie sich auslieferte und das sein Wesen enthüllte, als es sie mit den bereitgelegten Objekten verletzte. Sie wäre fast getötet worden, hätte ihr Galerist es nicht verhindert. Der YouTuber macht einfach gleich alles selbst.

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