Ein 19-jähriger Schüler möchte unbedingt das Fahrrad des Autors kaufen. Der will erstmal wissen: Warum ausgerechnet meins?
Der Zettel klemmte auf meinem Gepäckträger. Es war an diesem Novembertag 2020 auf einem Supermarktparkplatz in Krefeld. Da stand: "Möchten Sie Ihr Fahrrad verkaufen? Ich bin bereit, einen angemessenen Preis zu bieten." Die Schrift war schwer zu lesen. Ich faltete den Zettel auseinander. "Mir wurde mein Steppenwolf in Paris nach einer langen Reise geklaut. Ich hänge wirklich sehr an dem Fahrrad und bin seit jeher auf der Suche nach einem ähnlichen." Darunter Handynummer und Mailadresse. "Mit freundlichen Grüßen, Joe Martens".
Steppenwolf ist die Marke meines schwarzen Trekkingrads. Vor zwölf Jahren habe ich es auf Anraten eines Arbeitskollegen für knapp 1.000 Euro erworben. Ich wusste damals nur, dass Steppenwolf eine deutsche Fahrradmanufaktur war. Im Fahrradladen wurde ich ausgemessen. Dann musste ich mehrere Wochen warten. Am Anfang nervte mich das Rad wahnsinnig, weil die Kette bei jeder Umdrehung ein Klickgeräusch machte, dessen Ursache mir verborgen blieb. Irgendwann verschwand das Klicken von selbst - und das Fahrrad wurde eine große Liebe. Mehrere Jahre radelte ich darauf täglich 25 Kilometer zur Arbeit und 25 Kilometer zurück. Einmal fuhr ich mit ihm an einem einzigen Tag von der niederländischen Nordseeküste bis nach Hause. 260 Kilometer in 18 Stunden. Dieses Rad würde ich nie hergeben, aber ich wollte wissen, wer dieser Joe war, der anscheinend genauso an seinem Steppenwolf gehangen hatte, wie ich es immer noch tat.
Ich schrieb ihm eine Mail. Keine Antwort. Dann eine Ausrede: die Schule. Dann wieder nichts. Nach drei Monaten erhielt ich eine Datei mit dem Namen "Fahrrad Reise nach Paris.docx". Der Bericht umfasste mehr als drei Seiten und brach nach einem "Also" ab. Da war er noch nicht mal in Frankreich angekommen. Ein paar Tage später telefonierten wir.
Im Sommer 2020 war Joe gerade 19 geworden, also halb so alt wie ich. Er ging in die zwölfte Klasse der Bischöflichen Maria-Montessori-Gesamtschule in Krefeld, noch ein Jahr bis zum Abi. Er engagierte sich bei Fridays for Future. Die großen Ferien rückten näher. Wegen Corona gab es nicht viele Möglichkeiten. Da klopfte diese Idee wieder bei ihm an. Aufbrechen und abhauen. Und dabei mit dem Rauchen aufhören. Diesmal wirklich. Was eignete sich dafür besser als eine mehrwöchige Radtour? Den Kopf entschleunigen, während der Körper beschleunigt. So stellte Joe sich das vor. Nur er, das Fahrrad und der Weg. Bloß hatte er noch nie eine längere Radtour gemacht. Er fuhr jeden Tag mit dem Rad seines Großvaters zur Schule, 15 Minuten vielleicht. Doch jetzt würde er seinen Plan umsetzen.
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