Von Sebastian Blum und Harald Berlinghof
Schwetzingen/Hockenheim. Angelo steht draußen vor dem Schwetzinger SPD-Gemeindezentrum und stopft sich seine Pfeife. Er hat einen langen Tag hinter sich, kommt wie viele andere Mitglieder am Politischen Aschermittwoch von der SPD-Veranstaltung in Ludwigsburg. Er ist aber nicht müde, ganz im Gegenteil. Er hat noch immer viel zu sagen. Über die schlechten Umfragewerte, die ihm Sorgen machen, über Fehler in der Vergangenheit, zu der die Parteispitze endlich stehen soll. "Es nützt nichts, wir müssen jetzt den Karren aus dem Dreck ziehen."
Sauer macht lustig, heißt es, wenn die närrischen Tage vorbei sind. Dann laden die Hockenheimer und Schwetzinger SPD am Aschermittwoch zum Heringsessen ein. Aber ob die närrischen Tage bei den viel gescholtenen Sozialdemokraten wirklich vorbei sind, ist alles andere als sicher. Die Entscheidung der SPD-Mitglieder über den Gro-Ko-Deal mit der Union steht noch aus. Die SPD als "Krokodil" im schwarzen Karpfenteich könnte nach Ansicht vieler zu Verdauungsstörungen führen.
Und ob sauer oder lustig: Die Debatte, die in Schwetzingen und Hockenheim an der Basis geführt wird, geht weit über den Koalitionsvertrag hinaus. Während die Parteispitze und viele ihrer Vertreter ein Kompromisspapier bewerben, sind die Mitglieder bereit für eine Grundsatzdiskussion. Es geht um nichts weniger als die Zukunft der Sozialdemokratie.
"Chaostage bei der SPD", "Demokratiefeindlichkeit" - die rote Basis hält die schlechte Presse beinahe nicht mehr aus. "Das ist zum Kopfschütteln", sagt ein Mitglied an der Theke im SPD-Gemeindezentrum in Schwetzingen. Dort sind Tische aufgebaut, mit SPD-roten Servietten und Blumengestecken geschmückt. Es gibt eingelegten Bismarck-Hering mit Pellkartoffeln.
An einem Tisch vor dem Tresen sitzt Friedrich Müller bei einem Glas Rotwein. Seit über 60 Jahren ist er Mitglied im Ortsverband, hat alle Höhen und Tiefen der Partei miterlebt. Seine Meinung hat er sich längst gebildet, die Begründung dafür ist so einfach wie plausibel: "Wenn ich sage, das Wasser fließt den Berg hoch, dann kann's in sechs Wochen nicht den Berg runterfließen." Er vermisst Standhaftigkeit und den Mut, zum eigenen Wort zu stehen. Andrea Nahles könne doch nur eine Notlösung sein. Es seien immer die gleichen Leute an der Parteispitze. Fazit: "So kann sich die SPD nicht erholen. Ich stimme dagegen."
Das will der SPD-Bundestagsabgeordnete Lothar Binding verhindern. Er ist eigens nach Schwetzingen gereist, um für die Große Koalition zu werben. Jetzt steht er vor der Theke, daneben der Landtagsabgeordnete Daniel Born und die Bundestagskandidatin Neza Yildirim. Sie halten gegen Binding.
Allein der Auftritt der drei Politiker zeigt: Der Riss geht mitten durch die Partei. "Teilweise mitten durch Familien", sagt Born. "Ich formuliere es mal diplomatisch - es ist schade, was gerade passiert." Einige Mitglieder winken ab. "Aber ich habe meinen Vertrag mit den Schwetzinger Bürgern abgeschlossen und nicht mit dem Willy-Brandt-Haus."
Und als hätte die Hockenheimer Stadträtin Ingrid Trümbach-Zofka Borns Worte in Schwetzingen gehört, führt sie im Restaurant Rondeau in der Hockenheimer Stadthalle nahtlos fort: "Man fasst sich an den Kopf. Was haben unsere Genossen da oben nur angestellt?"
Es braucht dieser Tage nicht mehr viel, um die Gemüter der Genossen zu erhitzen. Allein der Auftritt des neuen kommissarischen Parteivorsitzenden Olaf Scholz am Vorabend im öffentlich-rechtlichen Fernsehen hat vielen die Sprache verschlagen. "Eine Katastrophe, geschämt habe ich mich dafür", sagt ein Mitglied im Rondeau.
In Schwetzingen hat Binding viel Arbeit vor sich, kritzelt letzte Stichworte auf Handzettel, bevor er seine Ansprache beginnt. Er versucht es mit Verständnis: "Mir ist bewusst: Nach jeder Großen Koalition verliert der kleine Partner Stimmenanteile." Dann präsentiert er seine Argumente, wie sie auch Andrea Nahles oder Olaf Scholz dieser Tage gebetsmühlenartig in die Kameras sprechen. Die SPD habe Schlüsselministerien bekommen, das "Entscheidungsmodell Merkel" sei nicht fähig für eine Minderheitsregierung, und Neuwahlen wären sinnlos, man würde dem Wähler nur noch einmal die Inhalte verkaufen, die sowieso im Koalitionsvertrag stehen.
Seine Argumente sind überwiegend plausibel, sein Auftritt verständlich, aber das Bedürfnis seiner Genossen nach einer Grundsatzdebatte teilt er nicht. Deshalb verwundert es nicht: Gegen jedes seiner Argumente gibt es Widerstand. Aber nicht, weil die Verhandlungsergebnisse so schlecht seien, das betonen viele Mitglieder, die sich zu Wort melden. Darum geht es den wenigsten Genossen. Der Koalitionsvertrag ist ein kleinteiliges, kompliziertes, mit Finanzierungs- und Rechtsmodellen gespicktes Kompromisspapier. Binding verkauft es als das kleinste Übel. Gleichzeitig stellen sich beim Heringsessen nicht wenige Genossen die Frage, wofür die SPD eigentlich steht.
Als die Debatte auf die 8000 Pflegekräfte kommt, die die SPD im Koalitionspapier errungen hat, wird es hitzig. Mitglieder schnauben. "Das ist doch ein Witz", heißt es hinter vorgehaltener Hand. Einem Mitglied, die in der Pflege arbeitet, fällt die Kinnlade herunter. "Es kann so nicht weitergehen, die SPD muss etwas tun."
Dann erhebt der Schwetzinger Gemeinderat Robin Pitsch die Stimme. Er spricht aus, was vielen auf der Seele liegt. "Mir fehlen die linken Grundziele. Da sage ich ganz klar: Mit Pflege darf man kein Geld verdienen." Binding hält dagegen, 8000 Pflegekräfte seien besser als Null. Aus dem Raum ertönt sofort: "Das ist doch nur eine Entschuldigung." Als Binding wieder ansetzt, um über die Gefahren der Minderheitsregierung zu sprechen, fällt ihm ein anderes Mitglied sogar ins Wort und redet sich heiß: "Immer nur Angst, Angst, Angst vor Neuwahlen. Ich kann's nicht mehr hören."
Es gibt auch vereinzelte Mitglieder, die gemeinhin als "vernünftig" gelten, weil sie versuchen, über der emotionalen Reaktion zu stehen. Der Hockenheimer Stadtrat Roland Zwick zum Beispiel war zunächst gegen den Koalitionsvertrag, hat sich jetzt aber eines Besseren besonnen, "wegen der Verantwortung für unser Land".
Auch Andreas Falz, ehemaliger Geschäftsführer des Schwetzinger Schlosses, gibt sich pragmatisch: "Bei Neuwahlen herrscht ja Chaos." Und der Brühler Bürgermeister Ralf Göck spricht sich für die Große Koalition aus, wiederum aus praktischen Gründen. "Im Koalitionspapier wurde viel für die Kommunen herausgeholt. Die SPD ist in deutschen Gemeinderäten stark vertreten, das wäre anders gar nicht möglich gewesen."
"Wir warten auf Antworten", richtet ein anderes Mitglied das Wort an Binding. Hier macht er Zugeständnisse: "Wir haben keine Profilpflege betrieben." Wie man denn aber garantieren könne, dass in den kommenden vier Jahren mehr Biss hinter Entscheidungen steckt, fragt ein anderes Mitglied. Binding: "Die Leute denken, Merkel hätte den Mindestlohn eingeführt. Da haben wir einen SPD-Fehler gemacht."
Nur wie können die Sozialdemokraten diesen SPD-Fehler in einer neuen Großen Koalition verhindern? Binding will, dass die Partei klar benennt, wie und vor allem woran gewisse Forderungen gescheitert sind. Damit könne man Profil aufbauen und zeigen, dass gute Ideen und Modelle an der CDU scheitern.
Daraufhin skizziert ein Schwetzinger Mitglied die letzten vier Jahre ganz nüchtern: "Als Zuschauer hatte ich immer den Eindruck, die SPD hat gute Themen. Dann kam die CSU von rechts mit Opposition, und am Schluss hat die Kanzlerin den Kompromiss für sich eingeheimst."