Kürzlich verbrannte eine Obdachlose beim Versuch, sich an einem Feuer zu wärmen.
Die Stadt verweist auf freie Notschlafstellen. Ist es wirklich so einfach? Unterwegs mit dem Kältebus der Caritas
Es ist 20 Uhr: Unter den Büschen am
Donaukanal liegt ein Mensch auf einer Bank. Dick eingepackt im Schlafsack, Decke drüber, Kapuze ins Gesicht gezogen, noch eine Pudelhaube darunter. Das
ist Günther Lechner, 56 Jahre alt, ehemaliger Kohlearbeiter aus Niederösterreich. Seit
mehr als drei Jahren wohnt er auf der Bank
am Donaukanal. Frühling, Sommer, Herbst
und Winter. Tiefe Falten, Strubbelbart und
eine Haut wie Leder zeugen davon. Heute
Nacht hat er Besuch.
Ein Passant hat beim Kältetelefon der Caritas angerufen und von dem Obdachlosen am Donaukanal berichtet. Jetzt hockt die 46-jährige Sozialarbeiterin Susanne Peter vor der Bank und drückt die raue, schmutzige Hand von Günther Lechner. „Sie haben ja warme Hände“, stellt Susanne Peter in ihrer leuchtend roten Caritas-Jacke fest. „Ich habe es ja auch warm“, antwortet Günther Lechner. Was folgt, ist ein langer Versuch, den Mann trotzdem zu überzeugen, für eine Nacht in einer Notunterkunft zu schlafen. Aber Günther Lechner bleibt stur. Er will nichts, er braucht nichts. Er befürchtet, dort bestohlen zu werden, und er mag die anderen Obdachlosen nicht und außerdem geniert er sich. Er hat seit Oktober nicht mehr geduscht. „Sie könnten bei uns duschen“, bietet Susanne Peter an. „Am Donnerstag werde ich mitkommen. Heute nicht“, lautet die Antwort.
Wie viele Menschen in Wien so wie
Günther Lechner leben, weiß niemand so
genau. Denn Obdachlose tauchen in keiner offiziellen Statistik auf. Laut der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAWO) sind Obdachlose zu schwer zu
erfassen. Die BAWO geht von etwa 6000
Obdach- und Wohnungslosen in Wien aus.
Sie zählt in erster Linie die Menschen, die
eine Nacht in einer Notunterkunft oder sozialen Einrichtung verbringen. Jene Obdachlosen, die diese Angebote
nicht in Anspruch nehmen, scheinen in ihrer Statistik nicht auf. Laut dem Fonds Soziales Wien (FSW) nutzen jährlich mehr
als 10.000 Menschen die Angebote der Wiener Wohnungslosenhilfe. Insgesamt nächtigten im vergangenen Winter 2700 verschiedene Personen in den Nachtquartieren,
davon rund 480 Frauen. Die Streetworker
der Caritas schätzen, dass es mehrere hundert akut Obdachlose in Wien gibt.Menschen wie Günther Lechner tragen in den Medien oft keine Namen. Über sie wird berichtet, wenn sie sterben, weil alle erschüttert sind, wenn sie erfrieren oder verbrennen, weil sie sich an einem Feuer wärmen
wollten. So wie vergangenen Montag jene
19-Jährige aus der Slowakei. Oder im Oktober 2015 die fünf Obdachlosen, die sich im
Kurpark Oberlaa in einer ehemaligen Mostschenke einquartierten und im Feststoffbrennofen ein Feuer entfachten. Im März
2015 kamen zwei Obdachlose bei einem
Feuer in einem alten Waggon in Wien-Floridsdorf ums Leben.
Dass in Wien nicht noch mehr Obdachlose im Winter sterben, liegt an Hilfsprogrammen der Stadt. In diesem Jahr zählen
die Einrichtungen insgesamt 1100 Notbetten in der Hauptstadt. 200 Plätze mehr als
die Jahre zuvor. Jeder kann am Kältetelefon Sozialarbeiter erreichen und auf Schlafplätze von Obdachlosen aufmerksam machen. In der Nacht, als die junge Frau verbrannte, waren die Notschlafstellen nur zu
88 Prozent ausgelastet, berichtet der Fond
Soziales Wien. Über 120 Plätze für Männer, Frauen und Paare wären frei gewesen.
Da stellt sich die Frage: Wieso lag die Frau
nicht im warmen Bett?
Susanne Peter, die Sozialarbeiterin der Obdachlosen-Einrichtung Gruft, erlebt das immer wieder. Ihre Klienten scheuen oft große Mehrbettzimmer. Die Gründe dafür sind unterschiedlich. „Wir haben einen Klienten, der sehr laut schnarcht. Er geniert sich deshalb und bleibt lieber draußen.“ Ein anderes Motiv sind psychische Probleme. „Wir versuchen seit Wochen, eine Frau dazu zu bewegen, unseren winterfesten Schlafsack zu benutzen. Aber der ist in ihrer Vorstellung mit Blut besudelt.“
Günther Lechner würde seine Bank gegen ein warmes Bett eintauschen, wenn es dabei Privatsphäre gäbe, sagt er. Individuelle Unterbringungsmöglichkeiten gibt es in Wien aber wenig. Dann also lieber die Bank. Sozialarbeiterin Susanne Peter kann ihm in dieser Nacht nicht helfen. Aber sie kennt ihren Klienten. „Er wird diese Nacht überleben. Und wir kommen wieder.“ Gegen den eigenen Willen können Obdachlose nur bei akuter Eigen- oder Fremdgefährdung in ein Quartier gebracht werden.
21 Uhr: „Matthias will keine Hilfe, aber es
scheint ihm gut zu gehen“, notiert Susanne
Peter in ihrer Infomappe, dahinter noch das Datum und die Zeit. Matthias’ Nachname
ist für die Caritas-Mitarbeiter unbekannt.
Sie nennen ihn deshalb Matthias Salztorbrücke, weil er unter ihr sein Quartier hat.
Ein großgewachsener Typ. Ein Mann wie
ein Bär. Er hat psychische Probleme, spricht
normalerweise nicht. Heute Nacht wechselt
er zumindest ein paar Wörter mit Susanne
Peter. Ein Erfolg für sie. Zermürbend findet
sie ihren Job nicht. „Es kommt darauf an,
welche Erwartungen man an die Klienten
hat. Ziel ist es, eine Beziehung aufzubauen und das Vertrauen des Menschen zu gewinnen, damit er letztendlich den Weg zurück in die Mitte der Gesellschaft findet.“
Im Winter gehe es einfach darum, zu schauen, dass die Obdachlosen die Nacht überstehen. Manchmal reicht ein kurzes Gespräch,
um die Situation eines Menschen einschätzen zu können.
Der Sportmediziner Piero Lercher von der Universität Wien sagt, dass man sich Kälteresistenz theoretisch antrainieren kann. Das würde allerdings nur für leichte Minusgrade gelten und auch nur unter den Voraussetzungen einer entsprechenden Kleidung, guter Ernährung und einer gesunden Lebensweise. „Wenn jedoch ein Obdachloser bei extremer Kälte nicht mehr friert und sich paradoxerweise auszuziehen beginnt, so ist das ein Warnsignal eines nahenden Erfrierungstodes“, sagt Piero Lercher.
21.30 Uhr: Das Telefon läutet. Eine Obdachlose soll in der Nähe der Urania liegen. Aufgrund der Beschreibung weiß Susanne Peter
sofort, wer die Klientin ist. „Das ist Sarah.
Zu der gehe ich morgen.“ Was hart klingt,
ist für Susanne Peter arbeitsnotwendig –
Prioritäten. „Als erste Information ist für
uns wichtig, ob es sich um einen medizinischen Notfall handelt. In dem Fall sollte
natürlich die Rettung gerufen werden. Allen anderen Hinweisen versuchen wir so
schnell wie möglich nachzugehen.“ Wichtig sei deshalb der regelmäßige Kontakt zu
den Klienten. Dann weiß sie, wer wie ausgerüstet ist und wer noch Hilfe braucht.
Die 19-jährige Obdachlose, die verbrannte, kannte sie nicht.
22 Uhr: Der Bus der Caritas tuckert in den achten Bezirk. An Bord winterfeste Schlafsäcke, Decken, Isomatten. Das Kältetelefon meldet eine Obdachlose in der Josefstädter Straße. Minus fünf Grad zeigt das Thermometer. Susanne Peter und ihre Kollegin finden die Frau eingekeilt zwischen einem Altkleider- und einem Flaschencontainer. Sie liegt auf einer Decke und hat eine noch dünnere über sich gezogen. Keinen Schal, keine Handschuhe, die Fußgelenke sind nackt, weil Hose und Socken zu kurz sind. Gabriela kommt aus der Slowakei und ist im Sommer 1961 geboren. Sie spricht ein paar Brocken Deutsch.
Seit zwölf Jahren sei sie obdachlos, sagt
sie. Arbeit verloren, Scheidung, Straße. Susanne Peter muss die Frau nicht lange überreden mitzukommen. Während die Sozialarbeiterin telefoniert, um zu erfahren,
welche Notschlafstelle frei ist, räumt Gabriela ihren Platz auf. Sie legt ihre Decken
ordentlich zusammen. Packt ihren Kopfpolster in ein Sackerl und ist abfahrbereit.
Ohne dass sie die Sozialarbeiterin kennt,
steigt sie in den Bus. Vertrauen ab der ersten Sekunde.
22.30 Uhr: Die Zweite Gruft, die Notschlafstelle
in der Lacknergasse im 18. Bezirk hat noch
Plätze frei, allerdings nur die obere Etage der Stockbetten. „Können Sie klettern?“, fragt der Sozialarbeiter in der Einrichtung.
„Kein Problem, Herr Doktor. Ich kann das“,
antwortet Gabriela. Nur Duschen wäre noch
toll. Einmal warm werden. „Ich bin doch
ganz alleine, Herr Doktor“, weint Gabriela. Der Mann, der kein Doktor ist, schaut
auf die Uhr. Die anderen schlafen schon,
deshalb ist das jetzt nicht so günstig. Aber
er will schauen, was er machen kann. Susanne Peter verabschiedet sich und strahlt
übers ganze Gesicht. „Deshalb mache ich
den Job. Gabriela hätte heute Nacht erfrieren können.“
23.30 Uhr: Es ist ganz still, als der Bus auf
dem Parkplatz vor dem Gänsehäufel anhält. Nur das Eis der zugefrorenen Donau
knackt und kracht. Die kalte Luft brennt
beim Einatmen in der Nase. Unter einer
Brücke soll eine Person wohnen. Susanne
Peter und ihre Kollegin kramen nach ihren
Taschenlampen und leuchten ins Dunkle.
Angst haben die beiden selten in ihrem Job.
„Die Menschen sind in erster Linie eigengefährdet, und wenn wirklich jemand aggressiv ist, kann ich gehen und die Polizei rufen.
Aber ich erinnere mich nicht, dass ich das
schon einmal machen musste“, sagt Susanne Peter. Im Lichtkegel der Taschenlampe
kommen Schaumstoffmatratze und Schlafsack zum Vorschein. Die Sozialarbeiterinnen nähern sich langsam. „Niemand zuhause“, sagt sie dann. „Er liegt hoffentlich
in einer Notschlafstelle.“
So wie der Klimaanlagentechniker Alex,
der seit drei Jahren auf der Straße lebt. Susanne Peter fand ihn vor Wochen unter der
Nordbahnbrücke. „Dort haben wir im Winter immer ein Feuer gemacht, um uns zu
wärmen. Wenn es nicht so traurig wäre,
könnte man fast sagen, dass das Lagerfeuerromantik war. Aber einer musste immer
wach bleiben und aufpassen“, erzählt Alex.
Der 46-Jährige hat seit kurzem eine fixe
Notschlafstelle in der Gruft. Mit Küchendienst und Therapie. Er will weg von der
Straße.
Günther Lechner, Matthias Salztorbrücke oder Gabriela möchten das vielleicht auch irgendwann. Alleine werden sie
das aber nicht schaffen.
24 Uhr: Für heute macht Susanne Peter Schluss mit dem Kältebus. Sie hat die Anrufliste abgearbeitet. Wer jetzt noch draußen ist, muss auf sich selbst aufpassen. Manchmal geht das tödlich aus.
Gabriela ist seit dieser Nacht nicht mehr in der Notschlafstelle in der Lacknergasse aufgetaucht. Sie wurde auch in keiner anderen Einrichtung in Wien gemeldet. Gabriela hatte in der Nacht angegeben, dass Wien nur eine Zwischenstation ist. Wohin sie reisen wollte, hat sie nicht gesagt.
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