Teil 1 - Das Kindermädchen
Liebe auf den ersten Blick war das nicht. Zumindest nicht von meiner Seite. Die fremde Frau saß plötzlich in unserem Wohnzimmer. Olga, damals Mitte 20, lächelte schüchtern und ihre blondgefärbte Mähne umrundete ihr müdes Gesicht. Sie sprach fast kein Wort Deutsch und roch fremd, nach einem anderen Land. Das also sollte mein neues Au-Pair-Mädchen aus Russland sein. Ich fühlte mich schrecklich. Von meiner Mutter übergangen, nicht ernst genommen. Ich war 14 Jahre alt. Wofür, um Himmels Willen, brauchte ich noch ein Kindermädchen?
Ich tat alles, um Olga das Leben so schwer wie möglich zu machen. Sprach kaum mit ihr. Wenn, dann nur widerwillig und so schnell, dass sie nichts verstehen konnte. Ich ging ihr aus dem Weg, schob das von ihr gekochte Essen beiseite. Doch Olga ließ sich nicht beirren. Olga lächelte.
Sie wirkte auf mich wie eine Mischung aus Elfe und Bundeswehroffizierin. Ihre Gesichtszüge waren sanft, ihr Haar trug sie meist offen, sie sang russische Liebeslieder, während sie mit militärischer Genauigkeit bügelte.Wenn sie Borschtsch kochte, eine russische Rote-Beete-Suppe, tanzte sie mit weiten Schritten durch die Küche. Dann verteilte sich dieser köstlich süß-saure Geruch des Essens im ganzen Haus. Olga paukte mit mir französische Vokabeln und hatte den Stoff schneller drauf als ich. Sie malte meine Bilder für den Kunstunterricht und ich kassierte die Eins. Als meine erste zweiwöchige Liebesbeziehung in die Brüche ging, tröstete Olga mich mit Kuchen.
Sie schlich sich in mein Herz und ich fühlte mich herrlich geborgen.Olga blieb ein Jahr bei uns. Sie erzählte oft von ihrer Heimat. Von diesem großen Land, das sie so sehr vermisste. Weite Ebenen, die im Winter glitzern. Warme Stuben und deftiges Essen. Sie erzählte vom Ballettunterricht, den sie besucht hatte und von Wladimir Putin, der bald Russlands Präsident sein würde.
Als das Jahr vorbei war, weinte ich um Olga und bat sie, bei uns zu bleiben. Meine Mutter schlug ihr vor, in Deutschland zu studieren. Doch Olga hatte Heimweh. Sie vermisste ihre Freunde. Ihre Familie. Ihr Land.In meiner letzten Erinnerung sehe ich Olga am Dortmunder Bahnhof in den Bus einsteigen. Sie lachte und winkte und ich weinte und winkte zurück. Dann fuhr der Bus los. Zurück blieb Leere. Ich wartete auf einen Anruf von Olga, Tage, Wochen. Vergeblich.
Dann kramte ich ihre Telefonnummer raus und bat meine russische Schulfreundin Anna, sie anzurufen. Die Frau am anderen Ende der Leitung erklärte, dass es dort keine Olga gäbe. Was für eine Enttäuschung! Olga war weg.Meine Mutter und ich haben Olga nie vergessen. Immer wieder haben wir uns gefragt, was sie wohl macht. Ob sie noch lebt? Ob sie Kinder hat? Seit ich ein Facebook-Profil habe, suche ich nach Olga. Ohne Erfolg! Und die deutsche Au-Pair-Agentur, über die sie damals nach Deutschland kam, gibt es längst nicht mehr.
Neue Hoffnung schöpfte ich, als mir ein Freund berichtete, dass Russen kaum Facebook nutzen, sondern das russische Pendant "VKontakte". Tatsächlich ist der Facebook-Nachbau in der ehemaligen Sowjetunion wichtiger als das Original: Mehr als 350 Millionen Menschen sind im größten russischsprachigen Onlineforum angemeldet. Ich melde mich an, mit meinem Namen und ihrem Foto als Profilbild - wer weiß, vielleicht erkennt sie jemand wieder? Ich gebe ihren Namen ein und den Ort, wo sie damals gelebt hat: Smolensk, ganz im Westen von Russland, fast an der weißrussischen Grenze.
Es dauert wenige Sekunden bis das Netzwerk ausspuckt: „Your search returned no results". Ihre Suche hat nichts ergeben.Ich erweitere die Suche auf ganz Russland: Das System findet acht Frauen. Ich schaue mir jedes Profilfoto an. Alle viel zu jung, keine ist meine Olga. Ich versuche es nur mit ihrem Nachnamen (219 Ergebnisse) und nur mit ihrem Vornamen, denn sie könnte verheiratet sein (2 494 664 Ergebnisse). Nach vier Stunden Recherche gebe ich entnervt auf. Ich muss offensiver suchen. Auf Deutsch formuliere ich eine Suchanzeige und lasse sie auf Russisch übersetzen:
„Hallo! Ich brauche eure Hilfe!!! Ich suche mein Kindermädchen Olga Kosina aus Smolensk. Sie war von 1999 bis 2000 in Deutschland bei der Familie Aberle. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr und vermisse sie sehr! Vielleicht kennt sie jemand und kann mir helfen!"
Auf Vkontakte vervollständige ich mein Profil, lade mehr Fotos von Olga hoch und beginne mich mit wildfremden Menschen aus Smolensk und Umgebung zu befreunden. Einige schreibe ich direkt mit dem übersetzten Aufruf an.
Nach vier Wochen habe ich 43 neue Freunde, 175 Nachrichten versendet und darauf 42 Rückmeldungen bekommen. Mit dem Übersetzer im Internet entziffere ich die Mails. Sie reichen von: „Kenne ich nicht" über „ich frage meine Freunde" bis „viel Glück für die Suche".Nur einer schreibt mir eine längere Nachricht: Alexander Buynov.
Er fragt nach Olgas Geburtsdatum. Kurz darauf meldet er sich wieder. Er habe meine Olga gefunden. Die Adresse anbei und seine Kontonummer. Er will Geld. Ich zeige die Nachricht einer russischen Kollegin. Sie sagt: „Saskia, lass die Finger davon. Das stimmt sicher nicht. Ich habe kein gutes Gefühl."
Schade. Ich verwerfe seine Nachricht und bin enttäuscht. Das gibt es doch nicht! Wie kann ein Mensch sich nicht finden lassen? Und das heutzutage, wo gefühlt fast jeder zwischen 20 und 40 Jahren ein Profil im Netz hat. Nur Olga scheinbar nicht. Da die Internet-Recherche nichts bringt, bleibt mir nur eine Möglichkeit: Ich muss nach Russland!Die lange Reise nach Smolensk
An einem grauen März-Morgen fliege ich von Berlin nach Moskau. Der Schlafzug nach Smolensk fährt um 9:45 Uhr von Gleis 5 am Weißrussischen Bahnhof ab. Mein russischer Fotograf Sergey und ich reisen in der Platzskartny-Klasse, der billigsten von drei möglichen.
Umgerechnet elf Euro kostet die Fahrt. Die blaue Lok sieht aus wie ein Zug aus den 50er Jahren. Die Gänge drinnen sind eng. Die roten Lederliegen hängen rechts und links übereinander. Wie Hochbetten.Der Zug schleicht vorbei an schäbigen Wohnhäusern, die in den grauen Himmel ragen und zwischen denen die schmutzigen Schneehaufen schmelzen. Dann bringt mich der Zug raus aus Moskau und hinein in das riesige, weite Land. Wälder, Flüsse, kleine Siedlungen und wieder Wälder. Wie Zahnstocher schauen die kargen Birken aus.
Im Zug verteilt die Schaffnerin Tee und Kaffee. Die Gläser, in denen die Getränke serviert werden, klirren in ihren Metallbehältern. Aus dem Ohrhörer meines Liegenachbarn dröhnt „Carlifornia Dreaming". Der Geschäftsmann von Platz 45 telefoniert leise, aber unentwegt. Der junge Typ, der ihm gegenübersitzt, schläft.
Auf dem Weg zur Toilette komme ich mit dem Geschäftsmann ins Gespräch. „Mein Großvater war Deutscher", erzählt er mir in gebrochenem Deutsch. „Bock war sein Name. Er war hier für peng, peng, peng." Dabei formt er seine Arme und Hände, als schieße er mit einem Gewehr.
Nach etwas mehr als 400 Kilometern und fünf Stunden, fährt die Lok in Smolensk ein. Das Licht ist zart und weich, und die Luft ist warm. Unsere Unterkunft für die nächsten Tage ist das Hotel Smolensk. Davor erstrecken sich breite Boulevards zu beiden Seiten, die von Bäumen gesäumt sind.Im Sommer muss es hier herrlich sein. Im Glinka-Park, schräg gegenüber, spazieren Großmütter mit ihren Enkelkindern. Es gibt einen Leihservice für Kettcars und bunte Spielzeugautos. Paare schlendern händchenhaltend auf den Promenaden. Ich bewundere die makellos zurechtgemachten Frauen auf ihren Highheels und die renovierten Prunkbauten im Zuckerbäckerstil.
Jetzt bin ich endlich in Olgas Stadt. Aber werde ich sie hier auch finden?Teil 2 - Die Suche
Das Taxi bringt mich vom Hotel in die Shevchenko Straße. Diese Adresse hat Olga vor mehr als 15 Jahren mit einem Kugelschreiber auf einen Zettel geschrieben und es unserer Familie gefaxt. Das war ihre Bewerbung als Au-pair-Mädchen. Vielleicht habe ich Glück und sie wohnt noch genau dort.
Die Fahrt dauert nur wenige Minuten. Kaum haben wir die prunkvolle Innenstadt verlassen, werden die Straßen uneben. Wir holpern über Schlaglöcher und Schutt. Vier- und fünfstöckige Plattenbauten und Mietskasernen aus der Regierungszeit des KP-Generalsekretärs Nikita Chruschtschow reihen sich auf. Vor einer dieser Siedlungen halten wir an.
Schäbig und heruntergekommen sieht es hier aus. Die bröckelnden Wohnsilos müssten dringend renoviert werden. Auf der braunen Wiese zerfällt ein Spielplatz. Drumherum stehen Bänke, die nur noch von wenigen Holzlatten zusammengehalten werden. Trotzdem wirkt das Wohngebiet freundlich. Vögel zwitschern. Kinder lachen, Omas kichern.Ich krame mein Handy aus der Tasche und öffne ein altes Foto von Olga. Mir ist klar, dass hier niemand Englisch spricht. Ich muss mich mit den paar Wörtern Russisch durchschlagen, die mir Sergey beigebracht hat.
Ich spreche eine Spaziergängerin an, die ihren Mini Collie Gassi führt. „Ya ishchu eta zhenshchina (Ich suche diese Frau)" und deute auf das unscharfe Bild auf dem Display, auf dem Olga meinen Kater Schnurzi streichelt. Die Frau zeigt auf etwas hinter uns, brabbelt vor sich hin und geht dann weiter. Sergey übersetzt: „Sie hat gesagt, dass zumindest die Katze hier wohnt." Ein Schnurzi-Double versteckt sich hinter uns im Gebüsch. Also Fehlanzeige.Auf einer der Holzbänke hocken drei Frauen. Sie haben uns beobachtet und scheinen neugierig zu sein, worum es geht. Es wird diskutiert und gestikuliert. Plötzlich springt eine von ihnen auf und marschiert los. Ich folge ihr in eines der Wohnhäuser. Sie stapft die Treppen hoch und klopft kräftig gegen eine der Metalltüren im zweiten Stock. Eine alte Frau öffnet. Ihre Haare sind weiß, das Gesicht faltig. Ihre butterweichen Ärmchen hängen aus einem roten, schmutzigen T-Shirt raus. Die patente 60-Jährige erklärt der Alten, dass wir Olga suchen. Ich strecke ihr mein Handy mit dem Foto entgegen. Sie kneift die Augen zusammen und stößt zischend Luft aus. „Ja, ich kenne diese Frau. Sie war vor Jahren meine Nachbarin."
Wahnsinn, denke ich. Das ist das erste Lebenszeichen von Olga. Sie glaubt sich zu erinnern, dass Olga ein Kind hatte. Vielleicht eine Tochter. Ausgezogen sei sie aber schon vor ewigen Zeiten. „Bestimmt über zehn Jahre her." Wohin Olga gezogen ist, weiß sie nicht. Wo ihre Mutter wohnt, weiß sie nicht. Ob sie geheiratet hat, auch nicht. Das ist nicht viel. Ich bedanke mich.
An diesem Nachmittag klappere ich die ganze Shevchenko-Straße ab. Ich läute an Türen, klopfe an Fenstern, stoppe Spaziergänger und Schüler auf dem Heimweg und spreche mit Eltern auf Spielplätzen. Nichts. Olga lässt sich auch hier nicht finden. Nach stundenlanger Suche bin ich frustriert. Es wird dunkel und kalt. Für heute ist Schluss.Kunsthochschule
Am nächsten Tag fahren wir mit dem Taxi zur Kunsthochschule. Nur wenige Gehminuten von der Shevchenko-Siedlung entfernt. Hier arbeitet Olga Swid. Die Tanzlehrerin gibt seit Jahren Ballettunterricht in Smolensk. Von meiner Olga weiß ich, dass sie früher Ballett gelernt hat. Es ist also einen Versuch wert.
Die zarte Frau betritt den Ballettsaal und weist die Studenten mit mütterlicher Strenge an, sich aufzustellen. Die Dame am Klavier beginnt zu spielen und die Tänzer strecken sich kerzengerade in die Höhe. Frau Swid tänzelt durch den Raum. „Adin, dva, tri!", die Studenten drehen sich oder gehen ins Plié.30 Minuten quält sie die jungen Frauen und Männer, die nicht etwa vom Bolschoi-Theater träumen, sondern schlicht davon, Lehrer zu werden.
Dann hat Olga Swid Zeit. Sie führt uns durch die dunklen Gänge der Kunsthochschule, durch das Treppenhaus hinauf und in das erste Zimmer links. Ein Kabuff, bis zur Decke gefüllt mit Aktenordnern. Das Archiv der Kunsthochschule.Olga Swid betrachtet das Foto auf meinem Handy. Sie meint, dass sie sich erinnern kann. Aber sicher sei sie sich nicht. Sie telefoniert andere Ballettschulen in Smolensk durch. Vor dem Fenster, am Schreibtisch, arbeitet eine rundliche Frau mit grauen Haaren und Brille. Sie sucht nach dem Namen in den Akten. Ich sitze ruhig dazwischen und hoffe, dass zumindest eine von beiden etwas findet. Vier Anrufe und eine Stunde Aktensuche später geben die beiden Frauen auf.
Für sie steht fest, dass meine Olga hier nie getanzt hat. Auch nicht an den anderen Schulen. Langsam bin ich verzweifelt. Das kann doch nicht sein. Bisher konnte sich nur die alte Nachbarin erinnern und viel wusste die auch nicht. Auf zur nächsten Adresse...Gymnasium
Das öffentliche Gymnasium von Smolensk steht im schicken Zentrum. Ein prunkvolles, gelbes Schulhaus. Hier unterrichtet Marina Woskoboinikowa seit 25 Jahren Deutsch. Wie sonst an keiner anderen Schule in Smolensk wird hier die Beziehung zu Deutschland besonders gepflegt.
Die Lehrerin war oft in Hagen und mag die deutsche Sprache. „Der Austausch ist für die Schüler wichtig. Deutschland ist so nah, da ist es für die Karriere sinnvoll, die Sprache zu lernen und Kontakte aufzubauen."
Dass meine Olga damals wieder zurück nach Russland wollte, kann sie nicht verstehen. Trotzdem verspricht sie mir, dass sie sich nach ihr umhören wird. Mehr kann sie im Moment nicht tun. Egal, besser als nichts!Freundeskreis Hagen-Smolensk
In Smolensk gibt es einen deutsch-russischen Verein: Der Freundeskreis Hagen-Smolensk. Meine Mutter glaubt, dass die deutsche Au-Pair-Agentur damals Kontakt zu diesem Verein hatte. Also vereinbare ich einen Termin und lasse über Sergey ausrichten, dass ich Olga suche.
Mit einer dunklen Limousine holen uns Vereinspräsident Denis Guba und sein Stellvertreter Andrew Krivolapov am nächsten Tag ab. Sie laden Sergey und mich zum Essen ein. Bei Borschtsch und Hering plaudern wir wie alte Freunde. Guba erzählt, dass er ein Reiseunternehmen leitet. Er organisiert Busfahrten nach Deutschland, Frankreich und Italien. Doch seit dem großen Wertverlust des Rubel sei das Interesse russischer Passagiere an Urlaub in Europa gedämpft.
Denis Guba kann sich nicht erinnern, dass er meine Olga nach Deutschland vermittelt hat. Doch er gibt sich Mühe: Während des Gesprächs läutet immer wieder sein Handy. Geschäftspartner, Freunde, Bekannte, sogar die Feuerwehr ruft an. Er hatte sie um Rückruf wegen Olga gebeten. Doch niemand weiß etwas.Als die beiden Männer merken, wie niedergeschlagen ich bin, hat Andrew Krivolapov eine Idee. „Du könntest im russischen Fernsehen einen Aufruf starten." Er telefoniert. Dann lächelt er. In drei Tagen soll es soweit sein. Sie würden ein Interview mit mir machen, das noch am Abend ausgestrahlt würde.
Ich weiß nicht, ob ich mich freuen soll. Erstens läuft mir die Zeit davon, zweitens weiß ich nicht wie Olga reagiert, wenn sie sich im russischen Fernsehen sieht. Ich will ihr keine Probleme machen. Trotzdem sage ich zu.Stunden später, Sergey und ich sind längst zurück im Hotel, bekomme ich eine SMS. Der Vereinspräsident. Er lädt uns auf eine Stadtführung ein. Wir treffen ihn im Glinka-Park vor dem Hotel. Er hat seine Frau und einen Freund mitgebracht. Wir spazieren an Denkmälern und Siegessäulen vorbei und Denis Guba erzählt, wie Smolensk bei Napoleons Russlandfeldzug eingenommen wurde und wie die Stadt während des Zweiten Weltkriegs von Hitlers Truppen fast völlig zerstört wurde.
Bei jedem Denkmal stoßen wir mit Wein und Whisky aus Plastikbechern auf die Freundschaft an. Es werden viele Denkmäler.Ein Hinweis
Am nächsten Morgen wache ich mit Kopfschmerzen auf. Ich trinke schwarzen Kaffee und esse süße Blinchiki, russische Pfannkuchen. Ich versuche mich zu konzentrieren. Wie suchen wir heute weiter?Mir gehen die Ideen aus. Noch dazu ist heute Samstag. Auch in Russland sind heute Ämter und Schulen geschlossen. Meine Motivation ist auf dem Tiefpunkt. Ich schaue auf meine Adressen-Liste, die ich vor der Reise aufgesetzt hatte.
Nur eine Möglichkeit habe ich noch. Die Adresse, die mir der Fremde über Vkontakte geschickt hat. Der wollte Geld und erschien mir deshalb unseriös. Egal, denke ich. Letzter Versuch. Sonst muss ich halt ins Fernsehen.Sergey und ich nehmen die Straßenbahn. Eine verrostete Tram, die aus einem Waggon besteht und wahrscheinlich schon seit 60 Jahren über die alten Schienen ruckelt. Darin tigert eine Frau mit Bauchtasche hin und her und kassiert von jedem Fahrgast 16 Kopeken. Für uns fast nichts: 100 Kopeken sind ein Rubel im Wert von 0,01 Cent. Nach 15 Minuten Fahrt steigen wir aus.
Wir überqueren eine Hauptstraße und laufen auf die Chruschtschowka-Siedlung zu. Fünfstöckige, schäbige Plattenbauten. Dazwischen nur Schlamm, weil es keine Wege gibt und es in der Nacht geregnet hat. Mülltonnen quellen über, ein paar Meter weiter verrostet ein Auto-Wrack. Vor einem Haus trinken zwei Männer zum Frühstück Bier. Eine Hauswand ist mit dem Nazi-Code 14/88 beschmiert. Ich fühle mich unwohl und kann mir nicht vorstellen, dass Olga hier wohnt.
Laut den mysteriösen Angaben soll sie im Wohnhaus 8a leben. Doch die Metalltür ist verschlossen. Eine Klingel gibt es nicht. Also heißt es warten, ob jemand hinein oder hinaus geht. Minuten vergehen. Ein junger Typ, um die 20 und mit Alkoholfahne, fragt uns nach Zigaretten. Dann öffnet sich endlich die Tür. Sergey und ich stürmen hinein. Im Flur ist es dunkel, es riecht nach Maggi.
Zu Olgas vermeintlicher Wohnung sind es nur fünf Stufen. Erster Stock, rechte Seite. Ich klopfe eher zaghaft. Mein Herz rutscht mir fast ich die Hose. Mein Mund ist trocken. Entweder ich treffe jetzt Olga oder einen Kriminellen. Letzteres erscheint mir gerade realistischer.
Da nichts passiert, klopfe ich noch einmal. Dieses Mal etwas fester. Drinnen läuft der Fernseher. Hunde bellen. Es muss jemand Zuhause sein. Dann nähern sich Schritte. Schlüssel klimpern. Es scheint zwei Türen hintereinander zu geben. Eine nach der anderen wird aufgeschlossen. Dann steckt endlich jemand den Kopf raus - ein blasses Mädchen mit langen Haaren und schüchternem Blick. Kein Krimineller, denke ich und bin schon mal erleichtert.
Ich stottere sofort los: „Privet. Ya ishchu Olga Kosina" und zeige ihr das Foto. Sie beugt sich über mein Handy und sagt etwas auf Russisch, ziemlich unterkühlt. Sergey übersetzt genauso ungerührt. „ Ja, das ist ihre Mutter. Sie lebt hier, ist aber gerade arbeiten. Sie wird heute um 21 Uhr nach Hause kommen!"
WAAAAAS??? WAHNSINN!!!Ich bin total aus dem Häuschen. Will was sagen, geht aber nicht, weil mein Russisch nicht reicht. Ich schaue dem Mädchen ins Gesicht und suche darin Olga. Meine Olga, so nah war ich ihr schon 15 Jahre nicht mehr. Das blasse Mädchen schließt schnell die Tür. Vielleicht war ich etwas zu stürmisch?
Ich bin so glücklich. Ich schwebe den Weg über den Schlamm zurück zur Straßenbahn. Heute Abend werde ich wiederkommen und dann werde ich endlich meine Olga treffen.Teil 3 - Das Ziel
Die Stunden bis zum Abend schleichen. Ich ziehe mich dreimal um, bis ich wieder das erste Outfit wähle. Schwarzer Rollkragenpulli und Jeans. Wirkt schön unaufdringlich. Als es endlich 20 Uhr ist, gehen wir los. Am Weg kommen wir an einem Blumenladen vorbei. Gute Idee, denke ich. Ich kaufe Tulpen, um nicht mit leeren Händen vor Olga stehen zu müssen.
Dann sitzen wir wieder in der ruckeligen Tram, überqueren die Hauptstraße, schleichen durch die Plattenbauten. Es ist halb neun und schon dunkel, als wir vor Haus 8A ankommen.Noch eine halbe Stunde. Ich bin schrecklich nervös. Tausend Gedanken schießen mir durch den Kopf. Wird sie sich freuen? Erinnert sie sich? Geht es ihr gut? Werden wir uns erkennen? Ich hocke mich auf eine Holzbank. Im Licht der Laternen schauen Bäume und Büsche aus wie riesige Schattenmonster. Die Kälte kriecht unter meine Jacke. Irgendwo grölen Jugendliche. Bei jedem Auto, das vorbei fährt, schrecke ich hoch. Das Warten zerrt an meinen Nerven.
Jetzt ist es neun. Noch immer keine Olga. Immer wieder gehe ich zum Hauseingang. Ein Betrunkener torkelt auf uns zu. Er will Geld. Sergey spricht mit ihm. Der Ton wird rau. Ich will hier weg.
Plötzlich höre ich Schritte. Aus dem Dunkeln kommt eine Frau auf uns zu. „Ist das Olga?" fragt Sergey. „Ich weiß es nicht. Sie ist nicht blond. Warte." Die Frau kommt näher. Mein Herz pocht so schnell, dass ich nichts mehr denken kann. Ich suche ihr Gesicht ab. Sie lächelt. Der Funke springt über. Sie ist es. Ich bin mir sicher. Ich freue mich so sehr, dass ich fast kein Ton rausbekomme.Ich (ganz leise): „Olga?"
Sie: „Ja"
Und dann umarmen wir uns und sie plappert ganz viel auf Russisch und ich verstehe nichts und bin nur glücklich. Wenn es eine Skala gäbe, auf der ich die schönsten Momente meines Lebens eintragen müsste, dann wäre gerade dieser Moment auf jeden Fall ganz weit oben.Olga lacht und stammelt deutsche Sätze: „Wie geht's dir? Was machst du hier? Wieso kannst du kein Russisch?" Dabei schließt sie die Tür zu ihrer Wohnung auf. Zwei Chihuahuas begrüßen uns laut und stürmisch. Das blasse Mädchen von heute Vormittag steht schüchtern im engen Flur. Hinter ihr wackelt ein kleiner Junge auf und ab und kreischt fröhlich. „Das sind meine Kinder", lacht Olga. Ein Mann im schwarzen T-Shirt erscheint aus einem Zimmer. Er drückt meine Hand und Olga erklärt ihm, wer ich bin. In Windeseile kocht sie Kaffee und Tee und stellt Kuchen auf den Wohnzimmertisch. Ich erfahre, dass ihr Mann Wlad heißt, die Tochter Alexandra und der Sohn Bogdan.
Und dann sitzen wir alle auf Sofas und Sesseln und Olga und ich halten Händchen. Es ist wunderbar. Wir sprechen auf Deutsch und Russisch und Olga und Sergey übersetzen und suchen nach Wörtern.Ich erzähle Olga von der Suche und sie berichtet, dass sie weder ein Facebook-Profil, noch eines bei dem russischen Nachahmer hat. Dass sie mich nie vergessen und oft an mich gedacht hat. Sie berichtet von ihrer Rückkehr damals nach Russland. Dass sie sich kurz danach verliebt hat und die Liebe so groß war, dass sie darüber hinaus alles andere wegschob. Sie sei schwanger geworden, dann in eine andere Wohnung gezogen. Die Zeit sei verflogen und ihre Deutschkenntnisse auch. Irgendwann habe sie sich schlicht nicht mehr getraut, sich zu melden. Aber vergessen habe sie mich niemals!
Als Bogdan quengelt, ist es schon spät. Er muss ins Bett. Olga und ich tauschen Handynummern aus und suchen uns gegenseitig auf WhatsApp. Wir verabreden uns für den nächsten Tag. Zum Abschied halten wir uns lange in den Armen. Meine Anspannung fällt von mir ab. Endlich!Mein Tag mit Olga
Die Sonne scheint, als ich mich zum dritten Mal auf den Weg zu Olgas Wohnung mache. Wir sind auf dem trostlosen Spielplatz zwischen den Plattenbauten verabredet. Die Stangen der Schaukel sind verrostet, der Sandkasten verwittert.Olgas Kinder sind die einzigen, die spielen. Mit Schippe und Förmchen backen sie Kuchen aus Sand. Als Olga mich entdeckt, kommt sie mir entgegen. Wir umarmen uns und sie lächelt. Da ist es wieder, dieses warme Gefühl. „Wir können gleich los. Kaffee trinken, Spazieren, ich zeige dir alles", lacht sie. Ihr fröhliches Wesen und diese heruntergekommene Umgebung wirken auf mich wie zwei völlig unterschiedliche Welten. Olga merkt das. Sie tätschelt meinen Rücken. „Es schaut hier nur so aus, aber gefährlich ist es in der Gegend eigentlich nicht."
Mit der Straßenbahn fahren wir ins Zentrum und dann gestikuliert Olga wild, sie zeigt nach rechts und nach links und erklärt dabei. Es ist eine andere Stadtführung als mit dem Vereinspräsidenten. Bei Olga geht es nicht um Krieg und Siege. Bei Olga geht es um Gefühle. Sie zeigt mir, wo sie vor Langeweile fast einging, weil ihr der Job als Sekretärin nicht gefiel. Dann gehen wir an der Boutique vorbei, wo sie jetzt Mode für reiche Russen verkauft und sie zeigt mir die Bar, in der sie sich in ihren Mann verliebte.Immer wieder greift sie nach meiner Hand und drückt sie. Ich spüre, dass sie sich wirklich freut, dass ich da bin. Wir schlendern durch den ordentlich angelegten Park, in dem eine Art Kirmes stattfindet. Wir fahren Riesenrad und essen Eis.
Olga erzählt, dass sie als Kind Ballett in einer kleinen Tanzschule gelernt hat, die es heute nicht mehr gibt. Auf dem Gymnasium im Zentrum sei sie nie gewesen und den deutsch-russischen Verein kennt sie auch nur flüchtig. Der Kontakt nach Deutschland sei damals über eine Lehrerin ihrer Schule zustande gekommen, die mittlerweile in Moskau lebt.Am Abend stehen wir in Olgas Fünf-Quadratmeter-Küche. Ein kleiner Holztisch passt rein, zwei Stühle, der Kühlschrank und die Küchenzeile. Die bunte Tapete blättert von der Wand. Vor dem Fenster hängt eine Häkelgardine. „Ich wollte erst eine Freundin fragen, ob wir bei ihr Kochen und Essen dürfen, weil meine Wohnung so klein ist. Aber das ist ja Quatsch. Ich will mich nicht verstellen. Wir sind nicht arm, aber so schaut nun mal der Mittelstand in Russland aus", sagt sie mit sanfter Stimme. Dann lacht sie herzlich.
Olga kocht Borschtsch und der süß-saure Geruch verteilt sich in der Wohnung. Genau so, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Das Aroma meiner Kindheit. Das Aroma meiner Liebe zu einer russischen Seele. Die Kinder quetschen sich zu uns, Olgas Mann Wlad kommt, um zu sehen, wann das Essen fertig ist. Die Hunde springen zwischen unseren Beinen herum. Es ist warm, herzlich, familiär und ich fühle mich endlich angekommen in Russland.
Kurz vor Mitternacht bringt mich Olga zum Bahnhof. Ihr Bruder hat uns gefahren, weil der ein Auto hat. Auch Olgas Tochter ist dabei. Es ist wie vor 15 Jahren am Dortmunder Bahnhof. Olga winkt und lacht und ich winke zurück. Nur weinen muss ich dieses Mal nicht. Denn eins weiß ich jetzt genau: Es ist kein Abschied für immer.Seit meiner Rückkehr aus Russland schreiben Olga und ich uns fast täglich kleine Nachrichten über WhatsApp. Sie schickt mir Fotos und ich nehme kurze Videos aus meinem Leben für sie auf. Ihre Tochter Alexandra übt über Facebook mit mir Englisch. Wenn sie älter ist, will sie mich besuchen. So geht unsere deutsch-russische-Freundschaft in die nächste Generation.
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