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Hassverbrechen in Großbritannien: "Sie waren wie wilde Tiere"

(ZEIT Online)

In Harlow wurde ein Pole von Jugendlichen totgeprügelt. Das Motiv ist unklar, trotzdem gilt der Fall als schlimmstes Beispiel des Fremdenhasses nach dem Brexit-Votum.

Etwa ein Dutzend Jugendliche sitzen in der Fußgängerzone in Harlow nördlich von London auf Bänken. Unter ihnen sind mehrere Mädchen. Ihre Mountainbikes liegen auf dem Boden. Überall liegt Müll herum. Die Jugendlichen suchen Ärger: Sie sind laut, pöbeln mehrere Passanten an. Eine junge Mutter ärgert sich über die Halbstarken und schießt ein Foto von ihnen. Sie möchte sie der Polizei melden, wegen "antisozialen Verhaltens".

Doch es kommt viel schlimmer. Die Jugendlichen hören, dass zwei Männer, die vor einem Pizzaladen stehen, polnisch sprechen. Sofort greifen sie ihre Opfer an und prügeln auf sie ein. Auf einen der Männer stürzen sich gleich mehrere. Der ruft nach Hilfe und will sich in das Schnellrestaurant retten, bricht dann aber zusammen. "Sie waren wie wilde Tiere und haben im Rudel auf ihn eingeschlagen", sagt ein Augenzeuge. Passanten schauen nach dem Angegriffenen. Er hat das Bewusstsein verloren und blutet aus dem Ohr. Kurze Zeit später stirbt Arkadiusz Jóźwik an seinen schweren Verletzungen. Die mutmaßlichen Angreifer waren gerade einmal 15 und 16 Jahre alt.

Es ist unklar, ob die Tat tatsächlich rassistisch motiviert war. Trotzdem gilt der Fall als Höhepunkt einer Welle von Gewalt gegen Ausländer, die seit dem Brexit-Referendum im Juni drastisch zugenommen hat. Vor allem Osteuropäer und Muslime werden immer wieder Ziel von Angriffen. Gegen osteuropäische Einwanderer hatten die Brexit-Befürworter vor der Abstimmung kräftig Stimmung gemacht. In den Anzeigen bei der Polizei heißt es, sie würden bespuckt und beleidigt, häufig gefolgt von der Aufforderung, das Land zu verlassen.
Ähnlich wie in Harlow kommt es aber immer wieder auch zu gewaltsamen Übergriffen. Und das im gesamten Land: In Plymouth brannten Unbekannte die Gartenlaube einer polnischen Familie nieder und hinterließen die Nachricht: "Geht zurück in euer verf***tes Land. Nächstes Mal wird es eure Familie sein." In Londons Stadtteil Hammersmith beschmierten Unbekannte die Türen eines polnischen Gemeindezentrums mit Beleidigungen.

Die Botschaften zahlreicher EU-Staaten berichten von Vorfällen, bei denen ihre Staatsangehörigen angegriffen oder beleidigt worden sind. Selbst Finnen und Schweden sind unter den Opfern. Das gab es noch nie.

Ein Bericht des Innenministeriums bestätigt nun, dass die Zahl solcher Vorfälle seit dem EU-Referendum im Juni tatsächlich deutlich gestiegen ist. Alleine im Juli wurden beinahe 5.500 solche Verbrechen gemeldet – 41 Prozent mehr als im selben Monat des Vorjahres. In den Tagen nach dem Referendum verdoppelte sich die Zahl der Übergriffe. Die meisten ereigneten sich am 1. Juli, als 207 Hassverbrechen gemeldet wurden. Dabei kam es nicht zu einem generellen Anstieg an Kriminalität: Die Zahl vergleichbarer Vergehen nahm in dem Zeitraum nicht zu. "Diese Zunahmen passen in das Muster einer Zunahme an Hassverbrechen nach dem EU-Referendum", heißt es in dem Bericht. Erst Ende August ging die Zahl der Übergriffe wieder langsam zurück.

Die Stimmung habe sich gewandelt, erzählen viele Ausländer, die in Großbritannien leben. Sie sei fremdenfeindlicher und wesentlich aggressiver geworden. Und das selbst in London, der vielleicht kosmopolitischsten Stadt der Welt. Die Mitarbeiterin einer humanitären Organisation erzählt von einem Vorfall, bei dem eine schwarze Frau – die also selbst einen Migrationshintergrund hat – in einem Bus angefangen habe, Ausländer zu beschimpfen. Als andere Fahrgäste einschritten, sei es zu einem Handgemenge gekommen.

Politiker können sich nicht aus der Verantwortung nehmen

Dabei trifft der Hass nicht nur Ausländer. Auch die Zahl der Übergriffe gegen Mitglieder der LGBT-Community ist in den drei Monaten nach dem Referendum drastisch angestiegen, um 147 Prozent. Die Organisation Galop, die homophobe Übergriffe aufzeichnet und deren Opfer betreut, verzeichnete 187 Vorfälle. Im selben Zeitraum im Jahr zuvor waren es nur 72.
Augenzeugen berichten von einer Gruppe von Männern, die wenige Tage nach dem Referendum durch Covent Garden im Zentrum Londons marschiert seien und ausländer- und schwulenfeindliche Parolen gegrölt hätten. Der Schauspieler Colin Appleby, der in der Gegend lebt, sagte, die Männer hätten eine abgewandelte Version des Liedes Rule, Britannia! gesungen: "Herrsche, Britannia! Britannia, beherrsche die Wellen. Erst werfen wir die Polen raus und dann die Schwulen." Dem Evening Standard sagte er, dass die Gruppe vermutlich angetrunken gewesen sei. "Aber ich kann das Ergebnis des Referendums nicht von der entfesselten und latenten Gewalt trennen, die diese Art von Vorfällen ermöglicht hat." Menschen, die solche Ansichten früher schon gehabt hätten, glaubten nun offenbar, sie öffentlich äußern zu können.

Innenministerin Amber Rudd verurteilte nach der Veröffentlichung des Berichts über die Zunahme der Hassverbrechen die Vorfälle und erklärte, Hass habe "keinen Platz" in Großbritannien. Doch ganz aus der Verantwortung nehmen können sich die Politiker des Landes nicht. Die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (Ecri), eine Organisation des Europarates, gibt den Politikern und Medien des Landes eine Mitschuld an der Zunahme der Hassverbrechen. "Es ist kein Zufall, dass rassistische Gewalt in Großbritannien zu selben Zeit zunimmt, in der wir beunruhigende Beispiele für Intoleranz und Hassreden in Zeitungen, im Internet und sogar unter Politikern sehen", sagte Ecri-Chef Christian Åhlund.

Der damalige Premier David Cameron etwa, der über das Leave-Votum gestürzt ist, habe im vergangenen Jahr Asylsuchende als "Schwärme" bezeichnet. In ihrem Bericht kritisiert die Organisation auch einige britische Medien, und da insbesondere die Boulevardpresse, die eine "beleidigende, diskriminierende und provokative Terminologie" anwende. Als Beispiel wird ein Kommentar in der Sun genannt, in der die Autorin Katie Hopkins Flüchtlinge als "Kakerlaken" bezeichnet.

Doch auch Innenministerin Rudd hat kürzlich mit einer auffallend fremdenfeindlichen Rede für Aufsehen gesorgt. Beim Parteitag der Tories in Birmingham sagte sie, britische Firmen müssten fortan offenlegen, wie viele Ausländer sie beschäftigen. So solle sichergestellt werden, dass mehr britische Arbeitnehmer eingestellt würden. Selbst führende Mitglieder der rechtspopulistischen Ukip-Partei nahmen an der Äußerung Anstoß. Nach einem öffentlichen Aufschrei verschwanden die Pläne wieder weitgehend in der Schublade.