Drohungen, Anzeigenentzug, Menschen, die nicht reden wollen: Journalisten, die kritisch über Viktor Orbán berichten, haben es in Ungarn schwer, sagt Csaba Lukács, Chefredakteur von Magyar Hang, zweitgrößte politische Wochenzeitung im Land. Und es wird immer schlimmer.
Herr Lukács, die Organisation Reporter ohne Grenzen hat mit Viktor Orbán erstmals einen EU-Ministerpräsidenten auf die Liste der „weltweit größten Pressefeinde“ gesetzt. Er steht jetzt neben Männern wie Lukaschenko, al-Assad und Kim Jong-un. Wie schlimm steht es um die Pressefreiheit in Ihrem Land?
Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen. Als Viktor Orbán vor ein paar Wochen in Großbritannien war, um Boris Johnson zu besuchen, stellte ihm ein britischer Reporter die selbe Frage. Alles halb so wild, sagte Orbán. Es gebe in Ungarn mindestens 12 Zeitungen, die kritisch über ihn berichten würden. Zurück in Budapest fühlte er sich unter Druck, das auch zu beweisen. Das Ganze sollte möglichst authentisch aussehen. Also ging er zu einem Zeitungskiosk und liess sich dabei filmen. In dem Video sieht man, wie Orbán den Kioskbesitzer nach regierungskritischen Zeitungen fragt. Am Ende sieht es so aus, als bekomme er fünf. Weit entfernt von 12. Und das Video ist sogar noch manipuliert, ein Zitat wurde aus dem Kontext gerissen. Ich weiß das, ich habe den Kioskbesitzer später interviewt. Tatsächlich waren es nur drei.
Die Anekdote mag lustig klingen, die Situation indes ist ernst: Radiostationen werden geschlossen, unabhängige Journalisten eingeschüchtert, Medienunternehmen aufgekauft. Die große Nachrichtenseite index.hu wurde quasi von Regierungstreuen übernommen. Die mussten zwar nicht schließen, machen aber auch keine kritischen Recherchen mehr wie früher. Es ist bitter, und wird immer schlimmer.
Seit Orbáns erneutem Amtsantritt im Jahr 2010 ist Ungarn auf der Rangliste der Pressefreiheit um 69 Plätze gefallen. Sie waren fast 20 Jahre lang Redakteur einer großen Tageszeitung, Magyar Nemzet. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Magyar Nemzet war einer konservative Zeitung. Orbáns Partei Fidesz eine klassisch-konservative Partei, zumindest damals. Als sie in der Opposition war, gab es einen regen Austausch. Das änderte sich, als Fidesz 2010 selbst an die Macht kam. Ab da haben sie uns kontrolliert. Hat man als Redakteur ein Thema vorgeschlagen, das kritisch gegenüber Fidesz war, bekam man vom Chefredakteur zu hören: „Das will doch keiner lesen. Schreib lieber was anderes.“ Irgendwann kamen Abgesandte der Regierung wöchentlich in die Redaktion, um mit der Chefetage zu sprechen. Als Redakteur war man nie persönlich dabei, aber man hat es an den Anweisungen der Chefs gemerkt. Der Einfluss der Regierung wurde offensichtlich. Von 2014 bis 2018 gab es eine kurze Phase der Freiheit. Der Herausgeber der Zeitung hatte sich mit Orbán zerstritten. Das Orbán-treue Führungspersonal verliess die Zeitung, wir anderen blieben. 2018 aber war das vorbei.
Da wurde die Zeitung eingestellt. Was war passiert?
Der Herausgeber ging einen Deal mit Orbán ein, gab sein Unternehmen an Fidesz ab. Dann trat der Chefredakteur vor das Team und sagte: „Das war der letzte Tag. Wir hören auf.“ Die genauen Hintergründe haben wir nie erfahren, aber wir sind uns sicher, dass Orbán und seine Leute im Hintergrund Druck gemacht haben. Warum sollte der Herausgeber, einer der reichsten Männer Ungarns, sonst sein Unternehmen abgeben?
Wie ging es weiter?
Wir haben eine eigene Ausgabe herausgebracht und kostenlos auf der Straße verteilt. Das kam gut an. Viele Menschen haben uns Geld gegeben, so konnten wir weitermachen und unsere jetzige Zeitung gründen: Magyar Hang.
Sie sagen, Sie trafen dabei von Anfang an auf Widerstände?
Es gibt in Ungarn vier Druckereien, die unsere Zeitung in dem Umfang und der Schnelligkeit, die wir brauchen, drucken können. Wir haben alle vier angeschrieben. Alle vier haben gesagt, sie hätten keine Kapazitäten. Aus Angst vor Orbán, da bin ich mir sicher. Wir haben schließlich eine Druckerei in der Slowakei gefunden. Mit denen arbeiten wir seitdem zusammen.
Sie fanden anfangs auch keine Anzeigenkunden.
Es gab ein sehr ehrliches Gespräch mit dem Vertreter eines großen deutschen Unternehmens, den Namen möchte ich nicht nennen. Er sagte, unsere Leserschaft passe perfekt zu seinem Produkt. Eine Anzeige wolle er dennoch nicht schalten. Er verhandele gerade mit der ungarischen Regierung über den Bau einer weiteren Fabrik im Land – und wolle nichts riskieren. Das ist immer so: Wenn sich internationale Firmen in Ungarn niederlassen wollen, haben sie Angst, auf Konfrontationskurs zu Orbán zu gehen. Bei uns annoncieren daher nur kleine ungarische Unternehmen: Bücherläden, Theater, Konzerthallen.
Schätzungen zufolge werden bis zu 80 Prozent der ungarischen Medien von der Fidesz-Partei kontrolliert. Wie ergeht es den anderen 20 Prozent, unabhängigen Medien wie Ihnen, im Alltag?
Die Regierung tut so, als würden wir nicht existieren. Wir dürfen nicht zu Pressekonferenzen und bekommen auch sonst fast keine offiziellen Informationen. Unsere Anfragen werden oftmals nicht einmal beantwortet. Manchmal bitten wir befreundete Kollegen anderer Zeitungen deshalb, auf Pressekonferenzen Fragen für uns mit zu stellen.
Welche Rolle spielen die verschärften Gesetze?
Im März 2020, am Anfang der Pandemie, wurde das Informationsauskunftsrecht verschärft. Behörden haben seitdem 45 statt wie zuvor 15 Tage Zeit, um Anfragen zu beantworten. Mit der Option, die Frist um weitere 45 Tage zu verlängern. 90 Tage für eine Information – so lässt sich natürlich keine aktuelle Geschichte schreiben. Zugleich wurde ein Gesetz gegen Fake News verabschiedet. Dabei muss die Nachricht, die man verbreitet, nicht einmal falsch sein. Es reicht, wenn sie in der Gesellschaft Panik verursachen könnte. Das ist problematisch: Wenn man etwa schreibt, dass eine bestimmte Anzahl von Menschen an Covid gestorben ist, kann einem das als Panikmache ausgelegt werden. Wir hatten den Fall: Ein Bestattungsunternehmen hatte uns kontaktiert und erzählt, dass es in einer Kleinstadt nördlich von Budapest um die 100 Covid-Toten gegeben habe. Wir haben den Bürgermeister kontaktiert. Der weigerte sich, Informationen herauszugeben, drohte uns aber mit Konsequenzen, wenn wir etwas veröffentlichen.
Sie bekommen einerseits keine verlässlichen Informationen, können andererseits aber belangt werden, wenn Ihre Berichte Panik erzeugen?
Genau. Die Regierung und ihre Verbündeten legen das Gesetz so aus, wie es für sie passt. Verstöße können mit Gefängnisstrafe geahndet werden. Glücklicherweise wurde bisher niemand inhaftiert. Das hat sich die Regierung dann doch nicht getraut. So läuft das oft in Ungarn: Die Regierung droht, sie setzt auf Angst.
Offiziell sind die Gesetze inzwischen aufgehoben.
Offiziell ja. Orbán hat gesagt, der Notstand ist vorbei. Gesetzesänderungen müssen aber im offiziellen Amtsblatt veröffentlicht werden, um wirksam zu sein. Das ist noch nicht geschehen. Niemand weiß also, ob die Gesetze noch gelten oder nicht. Und viele Regierungsstellen berufen sich noch darauf, etwa wenn man Informationen zu Covid anfragt.
Reporter ohne Grenzen sprechen auch von „schwarzen Listen“ unliebsamer Journalistinnen und Journalisten, die in regierungsnahen Medien zirkulieren. Stehen Sie auf so einer Liste?
Natürlich. Die Listen wurden nie offen verlesen, aber jeder weiß, dass es sie gibt. Und spürt das auch. Ich wurde früher beispielsweise oft als Experte in Sendungen des öffentlichen Rundfunks eingeladen, um über Themen zu sprechen, über die ich häufig berichte. Jetzt sitzen da nur noch regierungsnahe Journalisten. Und auch Künstler, Filmemacher und Prominente sind betroffen: Es reicht, wenn sich jemand mit dem Bürgermeister von Budapest, einem Herausforderer Orbáns, für ein gemeinsames Foto ablichten lässt – er oder sie wird dann nicht mehr in Sendungen eingeladen.
Gab es direkte Einschüchterungen seitens der Regierung?
Verschiedene Parlamentsabgeordnete und Leiter regionaler Institutionen haben uns verklagt, insgesamt 25 Mal. Immer ging es darum, dass wir über Korruption berichtet hatten. Wir haben allerdings jeden Fall gewonnen.
Haben Sie oder Ihre Kolleginnen und Kollegen Gewalt erfahren?
Bisher nicht. Aber es gibt eine Menge Hasskommentare in den sozialen Medien. Die Leute hören, wie die Regierung über uns spricht, und denken, sie sind im Recht, wenn sie uns drohen. Gut möglich, dass einmal ein Stein durch die Fensterscheiben unseres Büro fliegt.
Wie steht es um finanzielle Einflussnahme, etwa über den Anzeigenmarkt? Sie sagen, Orbáns Leute kontrollieren 60 Prozent des Marktes.
Ja. Man merkt das zum Beispiel daran, dass große Institutionen wie die staatliche Lotterie ausschließlich Anzeigen in regierungsnahen Medien schalten. Die Oligarchen um Orbán kontrollieren auch den Großteil der Plakatwerbung. Sie bestimmen, wer auf Werbetafeln erscheint.
Wie hat sich die Arbeit Ihrer Reporterinnen und Reporter verändert?
Wir berichten vor allem über den Alltag auf dem Land. Über Themen wie Arbeitslosigkeit und Landflucht. Früher war es einfach, Informationen zu bekommen. Unsere Reporter gingen einfach in die erstbeste Bar und begannen ein Gespräch. Heute ist das anders. Egal, ob man örtliche Polizisten, Ärzte oder Schuldirektoren fragt – sie alle sagen, sie müssen erst eine Erlaubnis vom Ministerium einholen, bevor sie etwas sagen. Die bekommen sie natürlich nie – falls sie überhaupt fragen. Inzwischen spricht kaum noch jemand unter Klarnamen mit uns. Häufig können wir im Artikel nicht einmal den Namen des Ortes nennen – weil die Leute Angst haben, erkannt zu werden.
Sie sagen auch, einige Leute hätten Angst, ein Abo abzuschließen?
Wir bekommen ständig Anrufe und Emails von Menschen, die unsere Zeitung mögen, sich aber nicht trauen, sie zu abonnieren. Häufig sind das Fidesz-Mitglieder, die fürchten, jemand würde es mitbekommen, sei es der Bürgermeister ihres Ortes oder ihr Chef. Das Ganze treibt seltsame Blüten: Mitunter haben Menschen vier Zeitungsexemplare im Abo. Eins für sich, die anderen drei für Nachbarn, die sich selbst nicht trauen.
Zugleich gibt es positive Entwicklungen. Es entstehen beispielsweise neue unabhängige Online-Medien in Ungarn. Wie passt das zusammen?
Ja, im Netz entstehen neue Angebote und die sind – im Moment zumindest – unabhängig und frei. Aber viele Menschen nutzen die gar nicht, etwa die Älteren auf dem Land. Die lesen Zeitung, hören Radio, schauen fern. Und diese Medien werden fast alle von Orbán kontrolliert. Deswegen sind wir auch so gefährlich für ihn. Das sind auch unsere Leser. Wir sind eine konservative Zeitung. Unsere Leser sind Menschen, die früher Fidesz gewählt haben und jetzt enttäuscht vom Kurs der Partei sind.
Nächstes Jahr wird in Ungarn ein neues Parlament gewählt. Wie macht sich das bemerkbar?
Orbán pumpt noch mehr Geld in die regierungsnahen Medien. Und er übt noch mehr Druck auf die unabhängigen aus. Die ungarische Post hat beispielsweise aufgehört, Tageszeitungen auszuliefern. Wenn es schlecht läuft, trifft das bald auch uns Wochenzeitungen. Ganz ehrlich: Das Jahr wird hart. Wenn Orbán alles daran setzt, uns komplett aufzuhalten, dann schafft er das auch.