Irgendwann wettete Tobias Lange* sogar aufs Wetten selbst. Wirft vor dem Spiel eine Münze. "Kopf" heißt, heute hat er Glück. "Zahl", heute ist kein guter Tag. Manchmal schaut er vor dem Zocken auch kurz auf die Uhr. Ist die letzte Ziffer gerade, ist ein guter Zeitpunkt zum Spielen. Und wenn sie ungerade war? "Dann habe ich später nochmal geschaut. Bis sie gerade war. Es gab immer einen Grund zum Spielen." Geld kam immer irgendwo her. Ein Bonus im Betrieb, eine Rückzahlung. "Für mich waren das immer Zeichen, weiterzumachen."
Etwa eine halbe Million Menschen in Deutschland hat ein problematisches oder pathologisches Spielverhalten, schätzt die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). Online-Glücksspiele sind unter Zockern immer beliebter: Ingo Fiedler vom Arbeitsbereich Glücksspielforschung der Uni Hamburg, schätzt, dass 20 Prozent des gesamten Glücksspielmarktes mittlerweile dem Onlinebereich zuzuordnen sind. Er schätzt auch, dass von jenen, die im Internet spielen, jeder Fünfte süchtig ist.
Bisher handelten Spieler aus Deutschland, die diese Angebote nutzten, gesetzwidrig, auch wenn das kaum geahndet wurde. Das soll sich nun, mit der Reformierung des Glücksspielstaatsvertrags, ändern. Anfang des Jahres verständigten sich die Länder darauf, Online-Poker und -Casinos zu legalisieren - bisher waren sie mit Ausnahme Schleswig-Holsteins in Deutschland verboten. Im März wird der Vertrag ratifiziert, im Juli 2021 tritt er in Kraft. Dann werden Online-Glücksspiele legal.
Die neue Regelung ist umstritten. Der Gesetzgeber argumentiert mit besseren Möglichkeiten der Kontrolle. Einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler halten die Reglementierungen allerdings für nicht straff genug. Weil diejenigen, die süchtig sind, immer einen Weg finden würden. Menschen wie Tobias Lange.
Lange ist 28 Jahre alt. Ruhige Stimme, beim Reden hält er kontinuierlich Blickkontakt. Er benutzt oft das "man", wenn er über sich selbst spricht. Wie jemand, der sein Leben schon häufig durchreflektiert hat.
Lange heißt eigentlich anders, er möchte nicht, dass sein Arbeitgeber ihn erkennt. Er arbeitet im Außendienst eines internationalen Unternehmens, ist die meiste Zeit im Auto unterwegs. Seine Geschichte ist eine Abfolge von Gewinn und Verlust, von Euphorie und Absturz.
Tobias Lange ist 13, als er mit dem Spielen beginnt. Es ist 2004, die Zeit des großen Poker-Booms. Im Fernsehen laufen Turniere, Supermärkte verkaufen Spielsets zum Sonderpreis. Nach der Schule pokert er mit Freunden, anfangs zum Spaß, dann um kleine Beträge. "Man wird schnell besser", sagt er. "Das hat einen motiviert."
Es gibt nicht die eine, exemplarische Spielerbiografie. Aber es gibt Risikofaktoren, die eine Sucht begünstigen. Männer seien häufiger betroffen als Frauen, sagt Diplom-Psychologin Nina Romanczuk-Seiferth, Leiterin der Arbeitsgruppe Spielsucht an der Berliner Charité. Sie forscht zu Effekten und Ursachen der Glücksspielsucht. Menschen aus niedrigen Bildungs- und Einkommensschichten seien häufiger gefährdet als Menschen aus hohen. Besonders anfällig: Jugendliche und junge Erwachsene - wie Tobias Lange, als er mit dem Pokern anfängt.
Nach einer Weile besucht er Hinterzimmer-Turniere, fährt zu Spielen in ganz Deutschland, lernt die Stars der Szene kennen. "Man hat zu diesen Menschen aufgeschaut", sagt Lange. "Wie zu Fußballern in der Bundesliga."
Gegen einige Spielerinnen und Spieler kann man sogar im Netz antreten. Um dabei zu sein, muss man volljährig sein. Lange, inzwischen 16, scannt seinen Personalausweis ein, korrigiert das Geburtsjahr mit dem Programm Paint um zwei Jahre nach vorn. Sein Eintritt in die Online-Pokerwelt.
Dort läuft es gut für ihn, sehr gut. Er holt einen fünfstelligen Betrag raus. Kauft sich einen neuen Fernseher, eine teure Stereoanlage; macht Kurztrips mit Freunden, fliegt übers Wochenende zu Fußballspielen nach London, Madrid oder Prag.