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Wenn die Struktur wegbricht

Die Corona-Krise trifft alkoholkranke Menschen besonders, weil der geregelte Tagesablauf fehlt. Über einen trockenen Alkoholiker, der fast rückfällig geworden wäre.

Der rettende Anruf kam Anfang Juni. Sven* aus der Selbsthilfegruppe war dran. Ob er vorbeikommen und ihn, Wolfgang, abholen solle. Ein paar Tage später stand Sven vor der Tür, gemeinsam fuhren die beiden zum Treffen der Selbsthilfegruppe, ins Zentrum von Berlin.

Wolfgang Beyermann*, 58, ein Mann mit kurzem braunem Haar und grauen Schläfen, ist trockener Alkoholiker. Wäre er allein mit der Bahn gefahren, sagt er, wäre es "eng geworden". Über eine Stunde ist man von seiner Wohnung am Stadtrand bis ins Zentrum unterwegs. Dreimal umsteigen. Und immer warten vor Bahnhofskiosken, voller Regale mit Schnaps, Wein und Bier. "Wahrscheinlich hätte ich das nicht geschafft", sagt Beyermann. "Wahrscheinlich wäre ich rückfällig geworden."

Die Corona-Krise trifft alkoholkranke Menschen hart. Hilfsorganisationen wie die Anonymen Alkoholiker und das Blaue Kreuz berichten von einer steigenden Zahl von Beratungsanfragen. Die Weltgesundheitsorganisation () warnte gleich zu Beginn der Pandemie vor einem wachsenden Alkohol- und Drogenkonsum.

Eine Studie des Zentralinstituts für Seelische Gesundheit (ZI) und des Klinikums Nürnberg scheint das zu bestätigen. Mehr als ein Drittel der rund 3.000 Befragten gaben an, während der Pandemie mehr oder viel mehr zu trinken als sonst. Mögliche Ursachen: die Kontaktbeschränkungen, finanzielle Sorgen, etwa wegen Kurzarbeit, Belastungen zu Hause, zum Beispiel wegen der Arbeit im Homeoffice. Kurz: Faktoren, die Stress verursachen. "Da ist Alkohol natürlich ein Mittel, zu dem viele Menschen greifen", sagt Thomas Hillemacher vom Klinikum Nürnberg. "Er ist immer verfügbar und relativ kostengünstig."

Zugleich - und das mag zunächst verwundern - gaben über 20 Prozent der Befragten an, während der Pandemie weniger zu trinken als sonst. Menschen, die eher in Gesellschaft als allein trinken, vermutet Hillemacher. Vor allem aber Menschen, die einer geregelten Arbeit nachgehen, zum Beispiel in systemrelevanten Berufen. "Bei denen hat sich im Alltag wenig geändert", sagt er, "die Tagesstruktur blieb annähernd gleich."

Es ist ein Argument, das man häufig hört. Spricht man mit Sozialarbeitern, Ärztinnen und Betroffenen über die Auswirkungen der Corona-Krise auf das Leben alkoholkranker Menschen, heißt es oft: Schwierig wird es, wenn die Struktur wegbricht. Das kann die Arbeit sein, Kollegen, aber auch Freunde. Menschen, die nicht nur Sicherheit, sondern auch soziale Kontrolle bedeuten. Für einige der letzte Anker, der sie vom Trinken abhält. Fehlt er, haben viele Alkoholabhängige, Menschen an der Schwelle zur Alkoholsucht, aber auch trockene Alkoholiker ein Problem.

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