Die Estrada Nacional 2, die längste Strasse Portugals, führt einmal durch das ganze Land. Gut zwei Wochen dauert es, die Strecke gemächlich mit dem Rad zu fahren. Man lernt dabei Orte kennen, die Portugal-Reisende sonst übersehen.
Das Leben in der Stadt? Valentim Duarte winkt ab. Für ihn wäre das ja nichts. Zu gross, zu anonym. Duarte, ein stämmiger Typ mit lichtem Haar, steht hinter dem Tresen seiner Bar, einem Bretterverschlag mit weissen Plastiktischen und flimmerndem Fernseher an der Wand. Es ist Nachmittag, die Bar noch leer, Duarte zapft ein Bier.
Cortelha, ein unscheinbarer Ort im portugiesischen Hinterland. 80 Einwohner, ein Restaurant, ein Trachtenverein, Duartes Bar. Das ist alles.
Er sei hier geboren worden, sagt Duarte, vor 47 Jahren. Nach der Heirat habe er kurz überlegt, in die nächste Stadt zu ziehen, sich dann aber dagegen entschieden. Der Lärm, der Stress. Also kauften sie ein Haus im Ort. Seitdem bringt er die Kinder morgens zur Schule, seine Frau zur Arbeit in die Stadt, dann kehrt er zurück in die Bar.
Was die Leute hier so machen? "Was sollen sie schon machen?", fragt er. "Sie arbeiten, dann kommen sie zu mir."
Cortelha ist einer der Orte, die Portugal-Reisende normalerweise übersehen. Und die doch zum Land gehören. Man könnte sogar sagen, dass das Leben in ihnen authentischer ist. Denn während Lissabon immer touristischer wird, blieb das Landesinnere vom Tourismus weitestgehend unberührt. Das soll sich nun ändern. Dazu bewirbt das Land Reisen auf seiner längsten und bekanntesten Strasse: der Estrada Nacional 2 (EN 2), der "portugiesischen Route 66".
Die EN 2, bis zur Eröffnung der Autobahnen die wichtigste Verbindungsstrasse des Landes, führt auf 739 Kilometern durch ganz Portugal; von der spanischen Grenze im Norden bis zur südlichen Atlantikküste, mitten durch Kleinstädte und Dörfer wie Cortelha. Portugiesischer Alltag am Strassenrand.
Gut zwei Wochen dauert es, die Strecke gemächlich mit dem Rad zu fahren. Wer die Tour macht, erlebt ein Land, das seit je mit Abwanderung zu kämpfen hat, dessen Bewohner Unwägbarkeiten aber mit erstaunlichem Gleichmut begegnen.
Die Reise beginnt in Chaves, kurz hinter der spanischen Grenze. Eine typische portugiesische Kleinstadt: weiss getünchte Häuser, Kopfsteinpflaster; Bürgersteige, so schmal, dass man sich in Hauseingänge drücken muss, wenn einem jemand entgegenkommt. Auf den Strassen vor allem ältere Männer in altmodischen Anzügen, die Hände in den Hosentaschen vergraben, die Schiebermütze in die Stirn geschoben.
Trás-os-Montes heisst die Region. Sie ist bekannt für Thermalbäder, für kurze Sommer und raue Winter; für grüne, nebelverhangene Berge. Auf und ab schlängelt sich die Strasse, vorbei an Maisfeldern, an Kühen, an Gehöften, an denen Wein rankt. Schilder am Strassenrand werben für die Festa das Cebolas, das Zwiebelfest. Klassisches portugiesisches Hinterland.
"Lissabon ist hier", sagt Silvia Silva und deutet auf die Portugal-Karte vor sich, dann wandert ihr Finger nach Norden. "Wir sind da." Es gebe Dinge, sagt Silva, die schafften es nicht von hier nach da. Wir sitzen in einem Restaurant in der einstigen Provinzhauptstadt Vila Real. Silva, 39, beiger Trenchcoat, silberne Ohrringe, ist Vizebürgermeisterin von Santa Marta de Penaguião, einer Kleinstadt in der Nähe.
Die Bewohner von Trás-os-Montes, sagt sie, hätten lange als die Abgehängten, die Hinterwäldler gegolten, die "hinter den Bergen", wie die Region auf Deutsch heisst. Einige Dörfer wurden erst in den neunziger Jahren durch den Ausbau der Strassen erschlossen, andere haben seitdem erst Strom. Der Fortschritt brauchte immer länger, bis er die Gegend erreichte.
Als sie fünf war, erzählt Silva, hätten die Familien in ihrem Heimatdorf nur Schwarz-Weiss-Fernseher besessen. Während der Rest des Landes bereits in Farbe schaute, bastelten sie sich ihr eigenes Color-TV. Sie klebten Glasscheiben vor den Bildschirm, eine gelbe, eine orangefarbene, eine grüne; jeweils nebeneinander.
Die isolierte Lage der Region zwischen den Bergen hat aber auch dazu geführt, dass sich einige Traditionen hier bis heute hielten: Gesänge, Tänze, in der Gegend um Miranda do Douro gar eine eigene Sprache, Mirandés.
Das Hinterland verliert Menschen
Aus Trás-os-Montes stammt auch die Idee, Reisen auf der EN2 zu vermarkten. Silvas Chef, der Bürgermeister, begann 2014, die Vertreter anderer Gemeinden entlang der Strasse zu kontaktieren; 2016 gründete er die Associação de Municípios da Rota da Estrada Nacional 2. Seitdem arbeitet man eng zusammen, liess einen Reiseführer drucken; erste Anbieter haben die Strasse inzwischen im Programm. Das hat den Gemeinden Besucher beschert, eines aber hat es nicht gestoppt: die Abwanderung.
Viele, vor allem jüngere Menschen seien in die grossen Städte gezogen, sagt Silva. Nach Porto, Coimbra, Lissabon. Das Hinterland verliert Menschen, das war schon immer so. Als sich Portugal in den 1950ern zaghaft dem Fortschritt öffnete, setzte man vor allem auf die Industrialisierung der Küstenregion. Die Arbeiter zogen Richtung Meer, das Landesinnere dünnte aus. Auch heute leben rund 70 Prozent der Portugiesen im Küstenstreifen zwischen der spanischen Grenze im Norden und Lissabon.
Für sie sei das nichts, sagt Silva. Sie liebe das Leben auf dem Land, obwohl es stressiger sei. Das Landleben stressiger als die Stadt? Ja, sagt sie, weil man in der Provinz alle Menschen kenne - und sich entsprechend mehr engagiere.
Dann erzählt sie vom Süden des Landes. Es sei alles ruhiger dort; die Menschen langsamer. Und obwohl sie es nicht sagt, klingt es, als meine sie: fauler. Es ist das gängige Klischee: In Porto werde das Geld verdient, sagt man in Portugal, in Lissabon werde es ausgegeben.
Der Norden Portugals ist vor allem für seinen Wein bekannt, allen voran den schweren Port. Er wird im Alto Douro angebaut, einem der ältesten Weinbaugebiete der Welt. Auch hier führt die EN 2 entlang. Windet sich zwischen grellgrünen Weinbergen hindurch, bis sie hinter Peso da Régua den Douro überquert, den zweitwichtigsten Fluss des Landes. Früher wurde der Wein hier auf schmalen Booten, den Rabelos, Richtung Porto transportiert. Heute ist der Fluss vor allem bei Touristen beliebt, Veranstalter bieten von Porto aus Bootstouren ins Landesinnere an.
Hinter Lamego, einem schicken Städtchen mit einer Wallfahrtskirche, die nachts hell erleuchtet ist, wird es rauer: Die Bäume sind niedriger, Gräser und Sträucher mischen sich ins Bild, Gelb und Braun unter das viele Grün. Am Strassenrand tauchen vereinzelt Fabriken auf. Relikte der Vergangenheit.
Die Industrie war früher stark im Norden Portugals. Schuhe wurden produziert, Stoffe, Teile für die Autoindustrie. Dann kam die billige Konkurrenz aus dem Ausland, die Krise von 2008 gab der heimischen Industrie den Rest. 2015 verkam der Norden zur wirtschaftlich schwächsten Region Portugals. Inzwischen erleben erste Unternehmen zwar einen Aufwind. Doch dieser beschränkt sich auf wenige Branchen, allen voran die Schuhindustrie.
"Es gibt hier nicht mehr viele Fabriken", sagt auch Christina Gomes, Tourismusbeauftragte von Castro Daire, einer Kleinstadt weiter südlich. Ein bisschen Holzverarbeitung, sagt sie, das sei alles.
Gomes, 45, eine lebhafte Frau mit krausen Haaren, führt durch das Museum der Stadt. Inzwischen, sagt sie, habe die Gemeinde die Bodenpreise auf einen Euro pro Quadratmeter gesenkt - um ausländische Investoren anzuwerben. Erst gestern habe man einen Vertrag mit einem französischen Unternehmen aus der Metallindustrie unterschrieben. Oft komme das nicht vor. Deshalb setze die Gemeinde jetzt, wie das ganze Land, auf Tourismus: Rafting auf dem Rio Paiva, Wanderungen in der Serra de Montemuro.
Die Einheimischen hingegen gingen, sagt Gomes. Einige an die Küste, andere, viele, ins Ausland. In die Schweiz, nach Frankreich, Luxemburg. Das sei tragisch. Denn eigentlich seien Portugiesen sehr verbunden mit ihrem Land und ihrer Tradition. Später, in einem Restaurant, erzählt sie von ihrer Trachtengruppe. 50 Leute seien sie, trügen traditionelle Kleider, machten traditionelle Musik, tanzten traditionelle Tänze, einige mehr als ein Jahrhundert alt. Sie träten bei internationalen Wettbewerben sogar damit an.
Portugal war immer ein Auswanderungsland. Es begann mit der Eroberung Ceutas 1415, es folgten Madeira, die Azoren, Brasilien. Ab den 1960ern rückte die Arbeitsmigration in Europas Norden in den Fokus. Frankreich wurde ein Ziel, Deutschland, Luxemburg, die Schweiz, wo Portugiesen heute die drittgrösste Ausländergruppe stellen.
2011, nach der Krise, erfasste eine neue Auswanderungswelle das Land. Eine halbe Million Portugiesen verliessen ihre Heimat. Sie kenne viele Nachbarn, sagt Gomes, die damals gegangen seien. Aber niemanden, der wiederkam. Inzwischen bietet die Regierung Portugiesen, die zwischen 2011 und 2015 das Land verliessen, bei einer Rückkehr Steuervergünstigungen an.
Zurück zur EN 2. Im Städtchen Sardoal, etwa bei der Hälfte der Strecke, beginnt der Süden. Man spürt es an der wärmeren Luft. Sieht es an den flachen, weiss gekalkten Häusern mit ihren gelben oder blauen Streifen. Ein Relikt der Mauren, die den Süden Portugals bis ins 13. Jahrhundert besetzt hielten - und denen die Farbe als Schutz vor bösen Geistern galt.
Die Mauren bescherten Portugal eine Blütezeit. Sie brachten die Azulejo-Kacheln ins Land; auch der Fado hat arabische Einflüsse. Spuren hinterliessen sie auch in den Namen der Orte hier: Alcáçovas, Abrantes, Aljustrel.
Denn aller Abwanderung zum Trotz: Portugal war immer auch ein Einwanderungsland, auch später noch. Hunderttausende Kapverdier, Mosambikaner, Angolaner strömten, nachdem ihre Länder in den 1970ern unabhängig geworden waren, nach Portugal. Im Landesinneren sieht man sie und ihre Nachfahren heute selten, da ist Portugal sehr homogen, sehr weiss. Die meisten zog es in die Metropolen, allen voran nach Lissabon.
Die Flüchtlingskrise von 2015 hingegen tangierte das Land kaum. Als einer von wenigen europäischen Staaten wirbt Portugal zwar offensiv darum, geflüchtete Menschen aufzunehmen. Doch kaum jemand kommt. Nur gerade 1520 Flüchtlinge wurden zwischen Ende 2015 und 2017 im Land registriert. Es fehlen familiäre Netzwerke; es gibt kaum Afghanen, Syrer und Iraker, die bereits hier leben.
Mittagspause in Ciborro, einem Nest 100 Kilometer südlich von Sardoal. Hier gibt es eine Kirche, eine Apotheke, drei Bars; Letztgenannte direkt nebeneinander. Vor der ersten Bar sitzen zwei Männer und schweigen. Aus der zweiten dringen die Stimmen eines streitenden Paars. In der dritten aber herrscht High Life.
Bauern aus der Umgebung, jung und alt, in Jeans und Baumwollhemden, sitzen an Tischen, trinken Kaffee und Bier, einige spielen Karten, andere rauchen, alle reden wild durcheinander, aufgeregt und laut. Die Witzdichte muss enorm sein; ständig wird gelacht. Sie gelten eigentlich als melancholisch, die Portugiesen. In den Bars merkt man davon nichts.
Wir sind im Alentejo, dem Land "jenseits des Tejo", des grossen portugiesischen Flusses; eine Region, die lange als Kornkammer Portugals galt. Neben gelben Weizenfeldern bestimmt inzwischen auch braunes Weideland das Bild: Gräser, Kühe, dazwischen Korkeichen und Pinien, die wie aufgeklappte Sonnenschirme in der Mittagshitze stehen. Der Alentejo ist karg, flach, unendlich; dünnbesiedeltes Land, das an afrikanische Savannen erinnert.
Die Menschen hier haben nicht den besten Ruf. Ein Hang zur Trägheit wird ihnen nachgesagt, der Rest des Landes macht Witze über sie. Dabei hat das Leben in der Region ernste Seiten: Der Alentejo hat eine der höchsten Selbstmordraten Europas, die Altersarmut ist enorm. Und doch, so erzählen es die Alentejaner, sei ihre Region von der Krise vergleichsweise verschont geblieben. Weil es keine Industrie gebe, die eingehen, kaum Betriebe, die schliessen konnten. Und weil sich viele Menschen hier mit ihren Feldern ein Stück weit selbst versorgten.
Vom Alentejo geht es weiter in die Algarve, den südlichsten Zipfel Portugals, dahinter beginnt das Meer. Die Region ist seit Jahren ein beliebtes Reiseziel; von Kurzurlaubern, aber auch von Menschen, die bleiben. Hippies aus Nordeuropa gründeten hier in den siebziger Jahren Kommunen. 14 Prozent der heutigen Bewohner haben einen ausländischen Pass.
Der Niederländer Benedict Jacobs zum Beispiel. Wir sitzen am Frühstückstisch des abgelegenen Monte Gois Country House, kurz hinter Almodôvar. Jacobs, 70, ein hochgewachsener, schlanker Mann mit weissem Haar und Schnauzer, erkundet mit seinem Rad gerade die Region.
Vor einem Jahr haben er und seine Frau in der Gegend ein Haus gekauft. Frühling und Sommer verbringen sie seitdem in den Niederlanden, Oktober bis Januar sind sie hier. Inzwischen überlegen sie, ganz nach Portugal zu ziehen. Sie arbeiten ja nicht mehr. Die portugiesische Regierung hat Menschen wie sie vermehrt im Blick. Rentner, die nach Portugal übersiedeln, sind für zehn Jahre von der Steuer befreit.
In Faro endet die Reise dann. Etwa 50 000 Menschen leben hier, es gibt einen Flughafen, zwei Universitäten. Und auf den Strassen viele Menschen. Portugiesen, Deutsche, Briten, die sich durch die Gassen drängen. Und plötzlich grüsst man sich nicht mehr. Nach zwei Wochen im portugiesischen Hinterland versteht man jetzt auch all diejenigen, die einem auf dem Weg begegnet sind. Die in der Provinz blieben, während andere gingen. Das ist sie also, denkt man. Die Anonymität der Stadt, von der sie sprachen.